„Monthly Revelations“ Filmempfehlung: „Das Leere Grab“
Bei der Berlinale hatte ich als Spielstättenleitung im Haus der Berliner Festspiele die Premierenveranstaltung des Dokumentarfilms „Das leere Grab“ mit anschließendem langen Publikumsgespräch und hochrangigen Gästen aus Politik und Kultur verantwortet, den Film aber nicht gesehen. Nun startet er in den deutschen Kinos, und wir nahmen dies zum Anlass eines „Familienausflugs“, da in der Schule auch gerade das Thema deutsche Kolonialgeschichte durchgenommen wurde, unsere Tochter dafür recherchieren und einen Vortrag oder ein Video abgeben und auch eine Klassenarbeit zum Thema schreiben musste.
Ich finde es immer wieder von Neuem interessant, dass es hierzulande so üblich ist, dass Otto Normalverbraucher (will sagen: der gemeine Deutsche) gerne über andere urteilt, gerade auch in politischen Fragen – und gerade auch über die Politik und Geschichte anderer Länder. Aber dass die deutsche Kolonialgeschichte erst jetzt, lange im 21. Jahrhundert und sehr langsam aufgearbeitet wird, kann ich immer wieder nur unfassbar finden. (Siehe auch: der im letzten Jahr bei der Berlinale uraufgeführte Spielfilm „Der vermessene Mensch“) Vielleicht weil unser 20. Jahrhundert mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust eine noch drastischere Periode und mit der darauf und daraus folgenden, Jahrzehnte langen Teilung in zwei konkurrierende deutsche Staaten eine Art „Pausemodus“ der Vergangenheitsbewältigung zu bieten hat?
Dass in etlichen Museen in Deutschland (selbst in jüngst neu gebauten und eröffneten wie dem „Humboldt Forum“ im neuen alten Berliner Schloss hier in meinem Stadtteil) noch immer, nach 120, 130 Jahren, zehntausende geraubte Kunstwerke und Skelette und Schädel aus Afrika lagern und als Kolonialgewinne ausgestellt werden und noch immer nicht zurückgegeben werden, ist eigentlich beschämend und müsste die deutsche Bevölkerung, die sonst ja so gern über alle möglichen Verfehlungen urteilt, sprachlos machen. Wie würden all jene urteilen, wenn es andersherum wäre? Wie urteilen Deutsche regelmäßig über die Politik und die Menschen und die Geschichte in den Vereinigten Staaten, in England, Russland, China… Ist es nicht frappierend, dass auch die deutsche Politik im Jahr 2024 nicht aktiv diese geraubten Kunstwerke und Toten zurückgibt?
Man bleibt als Besucher und Zu-Schauer im Kino irgendwie auch machtlos. Der Film berührt in vielerlei Hinsicht, macht abstraktes Wissen um Kolonialgeschichte mittels heute in Deutschland und Tansania lebender Betroffener auf Täter- und Opferseite sehr gegenwärtig und greifbar. Das ist viel. Aber man geht dann raus ins eigene Leben und kann mit dem Gesehenen nichts konkret tun. Außer Betroffenheit zu fühlen. Gleichwohl kann ich diesen Film nicht genug empfehlen, da er einem sonst sehr abstrakten, historischen Geschichtsbuchthema viele sehr gegenwärtige menschliche Gesichter und Emotionen gibt, die und unmittelbar direkt ansprechen.
DAS LEERE GRAB – ein Film von Agnes Lisa Wegner & Cece Mlay, Deutschland/Tansania 2024, 97 Minuten, Originalfassung in Suaheli, Deutsch und Englisch, teilweise mit deutschen Untertiteln
2 Kommentare
Jan Reetze
Ich gehöre zu den Leuten, die gern durch Museen schlendern, aber bevorzugt eher durch die Abteilungen Kunst, Gemälde und Design. Zu alten hölzernen Gottheiten oder frühen Knochen habe ich, das muss ich zugeben, nie ein wirkliches Verhältnis gefunden, auch wenn mir ihre wissenschaftliche Bedeutung einleuchtet.
Aber die von dir, Ingo, hier angetippte Frage habe ich mir trotzdem schon oft auch gestellt: Wo kommt dieses Zeug eigentlich her, und wieso liegt es nicht in den Museen ihrer Ursprungsorte, wo es eigentlich hingehört? Und im Nachbarmuseum kann man dann die Überreste der Schiffe besichtigen, mit denen es mal hergeschafft wurde.
Es sind diese Momente, die einem klarmachen, welches Gewicht geschichtlich auf uns lastet und welche Verantwortung das Handeln von Land A über die Jahrhunderte hinweg für das Schicksal von Land B gespielt hat. Und wie wenig man daran heute noch ändern kann.
Ich habe schon manches Mal mich gefragt, ob uns wohl irgendwelche außerirdischen Intelligenzen schon entdeckt und sich uns nur noch nicht gezeigt haben. (Nein, ich glaube es eigentlich nicht.) Trotzdem sollten wir vielleicht froh sein. Wenn wir von uns selbst ausgehen, dann ging es den Entdeckten nach ihrer Entdeckung meist ziemlich dreckig.
Olaf Westfeld
Würde ich sehr gerne sehen, läuft in der Leine-Metropole anscheinend nur einmal, nämlich am kommenden Samstag, 11:00. Ja, am Vormittag… das wird wahrscheinlich nix, dann warte ich auf eine Streaming Möglichkeit – guter Hinweis, danke!