Marlen
»Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, oder ein ganze Reihe von Geschichten.« (Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein) „I can still see the fire burning“ (Ron Wood und ich, 1974)
Bevor ich von Münster nach Würzburg umzog, also von den Philosophen und Germanisten zu den Psychologen wechselte, waren ein paar musikalische Erdbeben schon hinter mir, und ein paar Verliebtheiten. Bis zu meinem 21. Jahr machte ich niemals Fotos von den Mädels, die ich umwarb, mit denen ich ging, oder die mich im Regen stehen liessen. Und spöter auch so gut wie nie. Wäre ich zu Gast in einem Marcel Proust-Seminar, ich würde 25 kleingeschriebene Din A4-Seiten über „Marlen and me“ zuwegebringen, ohne Erfindungen. Ein kleiner Roman hätte es schon werden können.
Umso verblüffender, dass ich nun in einer Dokumentenkiste, versteckt in einem Diogenes-Krimi (in genialem Schwarzgelb) meine einzige, viel zu kurze, Liebe aus Münster fand. Ihr Antlitz. Sie war superintelligent, superheiss, und hatte super Humor. Sie war drei Jahre älter, meine erste Fesselkünstlerin nach Emma Peel, und ausserhalb besass sie eine Schlagfertigkeit, die ich mir erst später zueigen machte. Achachach – ihre sanfte Dominanz ein Märchen aus 1001 Nacht. Leider war sexuelle Treue nicht ihr Leitmotiv, und Ich habe sie nie wieder gesehen. Dieser Schnappschuss lockt viele Momente vom Februar und März 1974 hervor, bunte Puzzleteilchen, ich sehe ihr Treppenhaus vor mir, ihr Badezimmer, ihre Räucherkammer, ihre Leonard Cohen-Platten (sie kam unmittelbar aus einem seiner Songs) – und ihre perfekten langen Beine, die mich in der Unendlichkeit berührten, zumindest zuweilen. Thank you for the nights! Erstmals war ich ein vorübergehend glücklicher Brötchenholer am Morgen, ein leicht liebestrunkener Jean Pierre Leaud. Und mir selbst ganz nah.