• Doppelgänger

    „Die New York Trilogie“ war das erste Buch von Paul Auster, das ich gelesen habe, in der zweiten Hälfte der 90er. Gleich der erste Teil, „Stadt aus Glas“, ist eine Story, die jedes auch nur annähernde Gefühl von Gewissheit, Zuversicht und der Möglichkeit von Kontrolle auf faszinierende Weise zerstört. Durchdachtes, systematisches und scheinbar vernünftiges Vorgehen wird ad absurdum geführt. Konturen verschwimmen, so wie das Gespür für den Raum und die Zeit. Auch das Subjekt verschwindet. Im Jahr 1994 erschien „City of Glass“ als Graphic Novel, von Paul Karasik und David Mazzucchelli. Erst jetzt habe ich dieses Buch gelesen bzw. angesehen. Die visuelle Umsetzung ist ein ästhetisches Meisterstück. Sofort lebte ich wieder ganz gebannt in der Welt des Paul Auster, aber auf eine andere Art als gewohnt: in der visuellen Doppelgängerversion. Wer David Mazzucchellis Arbeit kennt, zum Beispiel „Asterios Polyp“ (vor zehn Jahren schrieb ich auf Manafonistas darüber, hier der Link), weiß, dass sie weit darüber hinausgeht, eine Story etwa in einer Aneinanderreihung von Film-Still-Pannels umzusetzen. Das Ziel ist immer, für die Besonderheiten einer Geschichte visuelle Äquivalente zu schaffen und damit weitere Nuancen oder Interpretationsmöglichkeiten hinzuzufügen.

    Hier ein paar Beispiele, Details, ohne zu viel zu verraten. Daniel Quinn, die Hauptfigur (jedenfalls ein Name dieser Hauptfigur), sitzt über einen langen, unbestimmten Zeitraum in einem Häuser-Zwischenraum vor dem Haus seiner Auftraggeber, um sie zu beschützen. Die Dauer wird visuell veranschaulicht, indem Quinn mit der Mauer verschmilzt. Dass Quinn an dieser Stelle seinen Verstand verliert und mit einem anderen Blick auf seine Umgebung schaut, zeigt ein verwischtes Pannel.

    In der zweiten Hälfte des Buches trifft Daniel Quinn den Schriftsteller Paul Auster. Während Paul Auster von seinem aktuellen Buchprojekt erzählt, einem Essay über Don Quixote, und man bei einer filmischen Umsetzung oder einem konventionellen Comic erwarten könnte, dass die Bilder von einem der Männer zum nächsten wechseln, ändern Mazzucchelli und Karasik allmählich raffiniert die Perspektive. Plötzlich sehen wir die Männer beim Lunch als Schattenriss und im Vordergrund einen Teddybär, Baseballhandschuhe und einen Spielzeug-LKW. Es folgt der Blick ans Fenster, dann aus dem Fenster, von verschiedenen Stockwerken aus, und während man den Dialog der Männer weiterliest, fragt man sich gleichzeitig, wohin die Bilderfolge führen mag. Die Perspektive nähert sich schließlich dem Gehweg unten vorm Haus und einem rätselhaften Gegenstand, der dort liegt, dann erkennen wir einen Jojo, den eine Hand ergreift und ein paar Bilder später steht Paul Austers Sohn Daniel im Wohnzimmer und begrüßt den Gast. „City of Glass“ ist durchzogen vom Motiv des Doppelgängers, und Daniel ist sogar ein mehrfacher Doppelgänger.

    Die größte Herausforderung war die Umsetzung der Rede eines Mannes, der als Kind neun Jahre lang eingesperrt war. Im Buch beschreibt Paul Auster diese Rede so: „Machine-like, fitful, alternating between slow and rapid gestures, rigid and yet expressive, as if the operation were out of control, not quite corresponding to the will that lay behind it.“ Die sprachlich in gebrochenem Englisch gehaltene Rede wird etwa so illustriert: Die Bilder nähern sich vom Körper zum Gesicht zum Mund, gehen in die Mundhöhle, dann in ein Gewässer, aus dem ein alter Mann mit einem Boot und Ruder auftaucht, der alte Mann führt die Rede fort, die Bilder gehen in seinen Mund, dort taucht eine Art Höhlenzeichnung auf, Formen verschiedener Gegenstände wiederholen sich in den aufeinanderfolgenden Bildern usw. bis zu einer vergitterten Tür und einer gebrochen liegenden Marionette. Immer wieder tauchen in der Graphic Novel Variationen einer Kinderzeichnung auf, die man als Zeichnungen des eingesperrten Jungen interpretieren kann. Über einer dieser Zeichnungen steht eins der Grundprinzipien postmoderner Literatur: „Everything becomes essence: The center of the book shifts, is everywhere…“

    Doppelgänger finden sich auch außerhalb des Buches bzw. der Graphic Novel. Paul Auster ist einer davon. Ein anderer ist ein Schriftsteller, der sich mit grundsätzlichen Umwälzungen der Sprache um 1900 befasste und in eine Schreibkrise geriet: Hugo von Hofmannsthal. Der aus dem Gefängnis entlassene Mr Stillman beschreibt die Ausgangslage in der Graphic Novel so: „When things were whole our words could express them. But things have broken apart, and our words have not adapted.“ Es geht ihm darum, eine angemessene Sprache für die neue Gegenwart zu finden. Hugo von Hofmannsthal beschreibt in seinem Chandos-Brief ein ähnliches, aber anders gelagertes Problem: „Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ Für Stillman stellt sich beispielsweise konkret das Problem, dass ein defekter Regenschirm nicht mehr als Regenschirm bezeichnet werden kann; deshalb erfindet er neue Wörter. Das ist sein Buchprojekt. Stillman glaubt also an die Möglichkeit, das Wesen der Dinge in die Sprache der Menschen zu übersetzen. Hugo von Hoffmansthal glaubte das nicht. Im Chandosbrief entwickelt er die Position, dass die Reflexion der Sprache selbst als Element moderner Literatur wesentlich ist.

    Am 8. April 2025 erscheinen alle drei Teile von Paul Austers „New York-Trilogie“ als Graphic Novel, umgesetzt von Paul Karasik, Lorenzo Mattotti und David Mazzucchelli.

  • „Und man hört sie doch. 20 Jahre Literaturwerkstatt in Darmstadt“. Eine Anthologie und was sie bedeutet.

    Das Buch ist da, schon einige Wochen ist es her, dass ich drei Pakete mit meinen bestellten Exemplaren bei der Verlegerin, Geraldine Gutiérrez-Wienken, in Heidelberg abgeholt habe. Jedes Buch wird von Hand hergestellt. Maximal zwölf Exemplare schafft sie an einem Tag. Ihre Garage im Hinterhof ist eine Werkstatt. Eine Neonröhre an der Wand beleuchtet die Schneidemaschine. In der Mitte steht dann noch ein anderer, größerer Tisch, für die Falz- und Klebearbeiten. An den Seiten offene Regale mit Kartons: Es wird edles Papier verwendet; nicht zu dünn, es ist griffig. Handarbeit, das bedeutet auch, dass die Seitenränder nicht immer gleich breit sind. Jedes Buch erhält einen Stempel. Mein Exemplar ist ein Probestück vom Dezember, es hat die Nr. 002.

    Hinter dieser Anthologie, deren Herausgeberin ich bin, steckt ein Lebensabschnitt. Eigentlich sind es zwei Abschnitte: die Zeit der Seminarleitung, die weitergeht, und die Zeit der Arbeit an dem Buch selbst, die sich über eineinhalb Jahre erstreckte. Es begann am 8. Februar 2005, einem Montag, um 18 Uhr im Literaturhaus in Darmstadt. Alle, die sich dafür interessierten, auch weiterhin an ihren literarischen Texten in einer Gruppe im Diskurs zu arbeiten, saßen an den Tischen im vierten Stock, schrieben ihre Erreichbarkeitsdaten auf Blätter, die jetzt immer noch in einem meiner Ordner zur Literaturwerkstatt eingeheftet sind. Ein Zeitsprung um 20 Jahre: Ungefähr 250 vierstündige Seminare später liegt sie nun vor, die Anthologie, die in dieser Form nur eine Auswahl darstellen kann, Einblicke in die Arbeit von Autorinnen und Autoren, von denen viele im Literaturbetrieb bekannt sind: durch Buch- und Zeitschriftenpublikationen, Preise und Stipendien, Lesungen, Radio- und Fernsehauftritte, Leitungen von Schreibwerkstätten und Herausgeberschaften von Literaturzeitschriften. Ein Buch von vielleicht zweihundert oder gar dreihundert Seiten, mit vollständig abgedruckten Erzählungen, hätte einen anderen Charakter ergeben, den zu präsentieren mich nicht gereizt hat, auch wenn ich deutlich mehr als 27 Autorinnen und Autoren hätte ihren Raum geben können. Ich schätze das Fragmentarische und habe bei der Auswahl der Auszüge aus längeren Texten darauf geachtet, dass sie auch außerhalb ihres Zusammenhangs etwas transportieren. Die Anthologie enthält 15 Gedichte, zwei Kürzestgeschichten, eine Filmszene, einen kurzen Prosatext und 14 Auszüge aus Erzählungen und Romanen. Außerdem selbstverständlich (leider sehr kurze und unvollständige) Kurzbiographien. Um das Ausmaß der Auswahl zu verdeutlichen: In jedem Seminar haben durchschnittlich zwei Personen Texte im Umfang von je 12 Seiten vorgestellt, über die wir dann diskutiert haben, das sind 24 Seiten pro Seminar. Multipliziere ich diese 24 Seiten mit der Zahl der Seminare (250), komme ich auf 6000 Seiten besprochener Literatur.

    Es ist nicht nur ein Seminar, an dem im Lauf der Zeit mehr als 100 Autorinnen und Autoren teilgenommen haben, viele davon länger als zehn Jahre; es ist eine Gemeinschaft geworden. Freundschaften sind entstanden, Netzwerke, die weit über die Teilnahme am Seminar hinausgehen. Die Begegnung in dem, was zu einem zentralen Bestand der eigenen Persönlichkeit gehört, verbindet. Bei den Gesprächen über die Texte vergessen wir die Zeit. Immer wieder diskutierten wir, vor allem in meiner zweiten Seminargruppe, der Dienstagsgruppe, statt planmäßig bis 22 Uhr eine halbe Stunde länger und manches Mal wurde es sogar noch später. Dann gingen wir ein paar hundert Meter die Kasinostraße runter, zum „Nazar“, einem türkischen Restaurant, das zwar nicht 24 Stunden offen hatte, aber immerhin 23. Die Atmosphäre war entspannt; wahrscheinlich lag es an den Öffnungszeiten, die verändern das Zeitgefühl. Wir saßen auf Hochsitzen, die Rucksäcke und Taschen zu unseren Füßen, bestellten warme Gerichte, ein „Nachtessen“ im wörtlichen Sinn, und wir ließen uns kurz vor unserem Aufbruch noch kleine Tassen schwarzen türkischen Tees als Geschenk des Hauses servieren, was sich nach Mitternacht wie eine Droge anfühlte, fast ein bisschen illegal, ein Aufputschmittel, das wir für den Rückweg in die verschiedenen Städte, aus denen wir anreisten, manche mehrere hunderte Kilometer weit, brauchten, und das uns länger als erwünscht wachhielt. Ich erinnere mich an einen Teilnehmer, der aus einer kleinen Stadt im östlichen Bayern anreiste. Er fuhr gegen Mittag mit einem Flixbus los, um gegen 18 Uhr in Darmstadt zu sein, nach dem Seminar und dem gemeinsamen Essengehen fuhr er mit mir im Auto mit nach Frankfurt, ich setzte ihn am Hauptbahnhof ab, von da aus nahm er einen Nachtbus, mit dem er letztlich wieder gegen Mittag in seinem Heimatort ankam.

    Über die Reihenfolge der Texte im Buch habe ich im vergangenen Sommer zwei Tage lang nachgedacht und dabei Kriterien berücksichtigt, die uns Michael all die Jahre und vor allem damals auf unserem alten Blog, manafonistas, immer wieder bei der Anordnung der Musikstücke für seine Radiosendungen vermittelt hat. Damals habe ich darüber hier einen Text geschrieben. Leider war es im Prozess des Layouts aus verschiedenen Gründen nicht möglich, an allen Stellen die von mir gewählte Reihenfolge der Texte einzuhalten. Deshalb ist die Anthologie für mich in dieser Hinsicht auch nicht perfekt. Hier ist meine Anordnung der Texte: Maria Knissel, Özlem Özgül Dündar, Ralf Schwob, Alexander Roth, Jonas Mieth, Elnas Nazem, Julia Mantel, Lea Matusiak, Sandra Ade, Ute Dietl, Armin Steigenberger, Andreas Pargger, Ralf Wolf, Eric Giebel, Brigitte Morgenroth, Kameliya Taneva, Maria Anne Anders, Sven Buchsteiner, Ulrike Sabine Maier, Katharina Kramer, David Emling, Karin Brand, Stefan Förster, Angela Regius, Iris Antonia Kogler, Barbara Zeizinger und Elke Barker.

    In meinem Vorwort habe ich von der Geschichte des Seminars erzählt und von ein paar Gedanken zur Bedeutung des Titels. „Und man hört sie doch“ ist ein Zitat aus der Erzählung „Wälder in Brooklyn“ von Armin Steigenberger, die wir im Jahr 2012 im Seminar besprochen haben. Hier ist die Passage, aus der der Titel entnommen ist:

    „Die kleinen Fliegen sind überall. Sie sitzen auf der Gardine, auf dem Lampenschirm, auf der Zeitung. Sie krabbeln neben den Worten über das Papier. Sie lassen sich, auf der Suche nach Licht, auf meinem Bildschirm nieder. Man hört ihre kleinen Füße nicht. Und man hört sie doch. Ich kann sie hören, aber es ist nicht das Geschwirr ihrer Flügel, das ich höre. Es ist mehr spirituell, so, wie man das Gras wachsen hört. Oder die Bäume im Wald.“

    Da die Anthologie beim Verlag, bei hochroth Heidelberg, hergestellt wird, ist es am besten, sie auch dort zu bestellen. Den Link findet man rasch auf der Verlagsseite hochroth.de, und hier ist der direkte Link zum Buch.

    Die Premierenlesung findet statt am Samstag, den 26. April 2025, um 18 Uhr im Darmstädter Logenhaus Johannes der Evangelist zur Eintracht, Sandstraße 10, 64283 Darmstadt. Musikalischer Rahmen: Claus Boesser-Ferrari (Gitarre).

    Alle Autorinnen und Autoren haben zugesagt, dabei zu sein, auch ohne Reisekostenerstattung; die weitesten Anreisewege sind die aus Hamburg, Leipzig, München und noch weiter südlich davon und – aus Irland. Dass solche Strecken zurückgelegt werden, um wenige Minuten einen eigenen Text vorzutragen und um die anderen aus der Literaturwerkstatt in Darmstadt wiederzusehen: Das ist der Spirit!

  • Morvern Callar: Die Musik treibt sie immer weiter

    Im Jahr 1995 erschien der erste Roman des schottischen Autors Alan Warner im Londoner Verlag Jonathan Cape. Der Name der Hauptperson ist auch der Titel: „Morvern Callar“. Die deutsche Übersetzung folgte drei Jahre später unter einem vagen und mutlosen Titel, in den man aber doch das ein oder andere hineininterpretieren kann, wenn man das Buch gelesen hat: „Hin und Weg“. Die Ausgangssituation: Eine junge Frau liegt an Weihnachten auf dem Wohnzimmerboden, die billige Beleuchtung eines Weihnachtsbaumes blinkt unablässig, neben ihr liegt ihr Freund, der sich mit einem Küchenmesser und einem Hackebeil umgebracht hat. Seinen Computer hat er nicht heruntergefahren. Auf dem Bildschirm steht „Read me“. Der Abschiedsbrief wirkt geradezu gut gelaunt oder auch zynisch und nicht wirklich überzeugend. Eine entscheidende Rolle im Buch spielt das druckreife Romanmanuskript, das sich ebenfalls auf dem Computer findet und von dem sich der Freund (der im Buch namenlos bleibt) wünscht, dass es veröffentlicht wird, wofür er eine Liste an Verlagen zusammengestellt hat.

    Schauplätze des Romans sind außer der Wohnung der Supermarkt, in dem Morvern Callar seit ihrer Jugend arbeitet (Fruit and Veg Section), Clubs und Kneipen, der Ort am Hafen und seine hügelige, idyllische Umgebung, das kleine Haus einer Großmutter, eine Hotelanlage mit Pool, das spanische Hinterland usw. Dass „Morvern Callar“ in Großbritannien zu einem Kultbuch avancierte, liegt neben der bemerkenswerten Geschichte vor allem an zahlreichen Musiktiteln und einigen Mixtape-Beschriftungen von Geheimtipp-Format: neuer Ambientsound, Acid Jazz, darkside Hardcore, elektronische Sounds, die in unbekannte Zonen des eigenen Unbewussten vordringen, mystisch, magisch, meditativ, und dazu eine ganze Menge Rave. Das Buch wurde in der Blütezeit der Mixtapes geschrieben. Morvern Callar ist, genau wie ihr verstorbener Freund, musikenthusiastisch: sie steht auf Rave und kennt so gut wie alles, was in Clubs aufgelegt wird; aber auch mit seiner Musik ist sie vertraut. Unterwegs ist sie fast immer mit ihrem Walkman verbunden. Mit Leichtigkeit stellt sie sich Mixtapes zu passenden Unternehmungen zusammen.

    Hier ihre optimale Kassette zum Sonnenbaden:

     A-SEITE:

    Czukay Wobble Liebezeit: Full Circle.
    Zawinul: The Harvest.
    PM Dawn: So on & So on.
    Can: Pauper’s Daughter & I.
    Scritti Politti: A Little Knowledge.
    Neville Brothers: With God On Our Side.
    Robert Calvert: Ejection.
    Hardware: 500 Years.

    B-SEITE:

    Keziah Jones: Free Your Soul.
    Daniel Lanois: Still Water.
    Spirit: Topango Windows.
    John McCormack: Come my Beloved.
    James Chance: Roving Eye.
    Hunters & Collectors: Dog.
    Leisure Process: A Way You’ll Never Be.

    Und hier noch ein paar weitere Musiktitel aus dem Buch:

    FSOL: Room 208. [Das Doppelalbum „Lifeforms“ von The Future Sound of London verzaubert mich zum wiederholten Male von der ersten bis zur letzten Sekunde vollkommen! Ich bin noch weit davon entfernt, das Buch musikalisch „ausgewertet“ zu haben. – M.W.]
    Kraftwerk: Orbital / Computer Love.
    Weather Report: Cucumber Slumber (von der Mysterious-Traveller CD)
    Brian Eno: Here Come The Warm Jets.
    The Can/Ege Bamyasi: Okraschoten: Vitamin C.
    The Can: Future Days.
    Holger Czukay: Persian Love.
    Magazine: Secondhand Daylight.
    Miles Davis: Get Up With It, He loved Him Madly

    Die Musik bedeutet Flucht vor dem tristen Alltag und Lebendigsein zugleich. In Rave-Katakomben erlebt Morvern Callar einen trancehaften Ambientsound, der erst, wie es heißt, in eine träumerische, pulsierende Endlosschleife übergeht und dann in eine ausgedehnte Reise in die Finsternis. Einmal spult Morvern Callar eine Videokassette von Michelangelo Antonionis „The Passenger“ (auf Deutsch „Beruf: Reporter“) zurück. (Vor langer Zeit habe ich auf manafonistas über den Film geschrieben, hier der Link.) In dem Film bricht ein Journalist aus den Bahnen seines ihm langweilig gewordenen Lebens aus und lässt sich auf eine ungewisse neue Existenz ein. Er tauscht seine Identität mit der eines andern. Dies ist auch ein Motiv in „Morvern Callar“. Ein unbeschwertes Leben, befreit von den Mühen der Lohnarbeit, ist eins der zentralen Themen. Die Strukturen in dem kleinen schottischen Ort am Hafen sind festgefahren, eng und historisch gewaltdurchdrungen. Sie lassen wenig Raum für eine individuelle Entfaltung. Die Hauptfigur erzählt kühl und distanziert, als beobachtete sie sich nur selbst. In einem Gespräch erklärt sie, jemand habe ihr gesagt, sie sei autistisch. Die Beziehung zu ihrer engsten Freundin und Supermarktkollegin, der aufgedrehten, lebenslustigen Lanna, ist geprägt von einem Wechselspiel von Distanz und Erfahrung inniger Gemeinschaft im bloßen Beisammensein. Zu keinem Zeitpunkt erfährt Lanna von dem Suizid, der für Morvern Callar eine weitere Traumatisierung durch den Verlust der am nächsten stehenden Person bedeutet. Mehrmals erwähnt sie die Insel, auf der ihre Pflegemutter begraben ist.

    Morvern Callar ist ein Mensch ohne Wurzeln; sie kennt nicht einmal den Ort ihrer Geburt. Im Unterschied zu ihrem finanziell wohlhabenden Freund ist sie kein intellektueller Typ. Er hatte ihr nichts von seinem Manuskript gezeigt und nach seinem Suizid liest sie es nicht, auch wenn es in seinem Abschiedsbrief heißt, er hätte es für sie geschrieben. Sie bleibt mit ihm durch die Musik verbunden. Zu Beginn und zum Ende des Buches hört sie den 32-Minuten-Track „He Loved Him Madly“ von Miles Davis (aus: „Get Up With It“), zu Beginn auf dem Walkman und am Ende auf dem Discman. Eine Veränderung im Medium, aber der Inhalt bleibt konstant. Am Ende des Buches wählt sie überraschend einen Ort für ihr zukünftiges Leben, mit dem sie durch ein nachgebautes Modell bestens vertraut ist und der genauso auf symbolischer Ebene bedeutsam ist wie der Track von Miles Davis. Solche Feinheiten zeigen, wie sorgsam der Roman komponiert ist. Jenseits der Musik, in der Morvern Callar sich am intensivsten erfährt, gelingen ihr seltene zauberhafte Momente. Als sie an der spanischen Küste nachts ins Meer hinausschwimmt, sehr differenziert die verschiedenen Lichter wahrnimmt und das Dunkel und schließlich beim Autokino landet, beobachtet sie, wie das Licht der Leinwand auf den Blättern von Bäumen flimmert. „Ich drehte mich zum Meer hin“, heißt es dann. „An meinen Haaren hörte man es leise tropfen. Ich schloss die Augen dort in der Stille und atmete einfach nur durch. Ich hatte drei Tage nicht geschlafen, um mir nur ja keine Minute von diesem Glück entgehen zu lassen, auf das ein Recht zu haben ich mir nie hätte träumen lassen.“

    Eignet sich der Roman für eine Verfilmung? Ein Amazon-Rezensent des Buches der englischen Originalfassung schrieb am 23. Januar 2000, er hätte vor drei Jahren für eine große Filmgesellschaft ein Gutachten zu dieser Frage verfasst, das er großzügig in seine Bewertung hineinkopiert hat. Zentrale Sätze lauten: „As far as film potential goes, this is a critical stumbling block. Films need to ask questions, then answer them. This novel leaves the reader pondering many unanswered questions.“ Und seine Schlusssequenz: „There are too many lists of different rave records, put in I suspect as a self-conscious sop to a „hip“ readership. Overall however, it is an engrossing read. I particularly liked the descriptions of Scottish binge drinking, and the ghastly Club Med group activities. On a deeper level, there some great symbolic strands which run through the book. To conclude, this is an excellent work of literary fiction, and works well on its own terms. I unreservedly recommend it as a good read. But there is no obvious film premise lurking within its pages, and though it is fun using the novel’s setup as a springboard for possible movies, I don’t think that justifies buying up the rights.“

    Die schottische Filmemacherin Lynne Ramsay, deren Kurzfilm „Gasman“ ich vor einiger Zeit hier einen kleinen Post vorstellte, hat glücklicherweise eine andere Vorstellung als der Amazon-Rezensent davon, was einen gelingenden Film ausmacht. Im Jahr 2002 erschien ihre Verfilmung des Romans, wobei sie den Buchtitel übernahm. In einem Film Fragen zu stellen, um diese dann zu beantworten, liegt Lynne Ramsay fern. Sie macht die Hauptfigur geheimnisvoller, schweigsam und geradezu unnahbar. Trotz teilweise verstörender Bilder gelingt es, die innige Liebe Morvern Callars zu ihrem verstorbenen Freund als roten Faden zu inszenieren und Abwesendes in Szene zu setzen. Die Verbindung wird vor allem durch den Walkman inszeniert; das durchsichtige Kabel und die durchsichtigen In-Ear-Plugs lassen an eine Nabelschnur denken. Morvern Callar ernährt sich von der Musik. Sie ernährt sich darüber hinaus, wie ein Säugling, vor allem von Flüssigkeiten. Auffällig oft trinkt sie Milch, außerdem Wasser und Alkohol. Sie wirft E-Pillen ein, ohne sie anzusehen. Feste Nahrungsmittel stehen kaum auf ihrem Speiseplan. Als sie einmal eine Fertigpizza in den Backofen schiebt, lässt sie sie verbrennen und beschäftigt sich weiter mit dem, was sie gerade tut, obwohl der Timer schrill geläutet hat. Während Morvern Callar im Roman beim Gruppensex darauf bedacht ist, alle zu befriedigen, macht sie im Film den Eindruck, als ob sie sich ernsthaft in jemanden verliebt hat oder verlieben könnte, und als von seiner Seite aus klar ist, dass nichts daraus wird, flüchtet sie, so weit weg wie nur möglich.

    Ein roter Faden des Films ist das Spiel mit der Identität, inszeniert durch ein Spiel mit dem Namen der Hauptfigur. Immer wieder buchstabiert sie ihren Namen. Ihr Name wird falsch ausgesprochen, der Nachname ist Bedeutungsträger auf Spanisch, Korrekturen führen nicht weiter. Wie um ihre wahre Identität zu schützen, trägt Morvern Callar eine Kette mit dem Namen „Jackie“.

    Der Musik, die Lynne Ramsay ausgewählt hat, unterscheidet sich völlig von den Tracks aus dem Roman. Auch im Film ist die Bedeutung der Musik elementar. Immer wieder wird suggeriert, dass wir gerade den Klängen aus dem Walkman lauschen: der Sound ist weniger differenziert und scheppert etwas metallisch. Der Soundtrack erschien im gleichen Jahr wie der Film, 2002, bei Warp Records auf CD (es war die Zeit, in der Audiokassetten als uncool galten). Das ist die Tracklist:

    Can: I Want More
    Aphex Twin: Goon Gumpas
    Boards of Canada: Everything You Do Is a Balloon
    Can: Spoon
    Stereolab: Blue Milk (Edit)
    The Velvet Underground: I’m Sticking With You
    Broadcast: You Can Fall
    Gamelan: Drumming
    Holger Czukay: Cool In the Pool
    Lee ´Scratch´ Perry: Hold Of Death
    Nancy Sinatra and Lee Hazlewood: Some Velvet Morning
    Ween: Japanese Cowboy
    Holger Czukay: Fragrance
    Aphex Twin: Nannou

    Den Schluss des Buches übernimmt Lynne Ramsey nicht. Am Ende bleibt das Gefühl, eine geheimnisvolle Figur, eine traumatisierte junge Frau, auf ihrem Weg einer Transformation eine Zeitlang begleitet zu haben: ins Offene und Ungewisse. Die filmische Interpretation des Romans ist, wenn auch eher nicht für ein Mainstreampublikum, hervorragend gelungen. Und: Mir fällt kein Film ein, dessen Musikauswahl mich mehr begeistert hat.

  • Through the 90s und Der Walkman-Effekt

    Es ist schon eine Weile her, dass Ingo aufforderte, 25 unserer Lieblingsalben den 90ern, die wir immer noch mögen, aufzulisten. Dabei sollten die Alben auch aus den 90er Jahren stammen. Innerhalb weniger Stunden gab es mehrere Listen und die Zahl der Kommentare ging Richtung Rekordhöhe. Im Verlauf dieser comments schrieb Ingo, er würde sich für meine Liste interessieren, und deshalb habe ich mich damit beschäftigt, obwohl solche Listen nicht mein Ding sind. Ich brauchte Zeit, weil ich in Ingos Vorgaben nicht denke. Was ich in den 90ern gehört habe und was damals eine Bedeutung für mich hatte und mir heute noch gefallen würde, stammte nicht unbedingt aus den 90ern. Zum Beispiel „Songs for the ten Voices for the two Prophets“ von Terry Riley, aber auch alte Pink Floyd Platten und ein paar Glanzstücke von Genesis. Umgekehrt habe ich einiges aus meiner Liste erst später entdeckt. So hatte mich Ingo vor ein paar Jahren in beeindruckender Einschätzung meines Musikgeschmacks auf „Plastikman: Consumed“ (1998) aufmerksam gemacht, ein Album, das seither auf dem Stapel meiner ständig gehörten CDs liegt. Das Jahrzehnt der 90er brachte eine starke Veränderung in meinem Musikhören, für mich einen Quantensprung. Anfangs habe ich noch mit der Geige in Orchestern gespielt (ich erinnere mich an Brahms und an L’Arlésienne von Bizet); im Februar 1995 entdeckte ich Michaels Sendung „Radio Unfrisiert“ im Hessischen Rundfunk, verlor nach wenigen Sendungen diese Spur, und am Ende des Jahrzehnts war ich süchtig auf seine Klanghorizonte, die meinen Musikgeschmack mehr als den jeden anderen Flowworkers geprägt haben. Hier also meine Liste, die zu keiner verwertbaren Antwort im Rahmen von Ingos Studie beitragen kann. (Und die Reihenfolge hat auch keine Bedeutung.)

    01) The The: Slow Emotion Replay (Der Titeltrack erinnert an die Titelmelodie der Serie „Northern Exposure“ und ist eventuell sogar ganz identisch. Dieser Track gefällt mir aber nicht, aber der Vorspann von „Northern Exposure“ ist maximal cool. Was ich immer noch gern höre, sind die Scenes from Arctic Twilight. Das ist eine ruhige elektronische Musik ohne Gesang.

    02) US 3 Hand on the Torch (das ist die Beschriftung. Die Musik erinnert mich an die Stimmung in der Dachgeschloss-WG eines Freundes, dafür genügen schon die ersten Takte.)

    03) R.E.M.: up

    04) Sonic Youth: Washing Machine

    05) Radiohead: Kid A

    06) Radiohead: OK COMPUTER

    07) Labradford: A Stable Reference

    08) Labradford: Labradford

    09) Labradford: Prazision LP

    10) Labradford: Mi media naranja

    11) Labradford: El luxo so

    12) Plastikman: Consumed

    13) Bark Psychosis: Codename: Dustsucker

    14) Bark Psychosis: Independency

    15) Boards of Canada: Skam

    16) Boards of Canada: Music has the right to children

    17) Boards of Canada: Twoism

    18) Nils Petter Molvaer: Khmer

    19) Eivind Aarset: électronique noire

    20) Underworld: Dirty Epic Cowgirl

    21) Flying Saucer Attack: Further

    22) Jon Hassell: City: Works of Fiction

    23) Bugge Wesseltoft: It’s snowing on my piano

    24) The American Analog Set: the golden band

    25) The American Analog Set: Through the 90s: singles and unreleased

    Beim Aufräumen meiner Sammlung von Audiokassetten habe ich einige Teile gefunden, als Originale aus den 90ern, die mich nie begeistern konnten:

    Sonic Youth: Daydream Nation
    Keith Jarrett/Gary Peacock/Jack DeJohnette: Tribute, ECM 1990, zwei Kassetten

    Mit der Wiederentdeckung der Audiokassette geht auch ein angepasstes Angebot an Abspielgeräten einher. Abgesehen davon, dass kleine Kompaktanlagen auf dem Billigsektor wieder Kassettendecks haben und das Angebot an Walkmen mit und ohne Digitalisierungsfunktion und mit zeitgemäßer Stromversorgung beachtlich geworden ist, bietet FiiO ein upper class upgrade-Modell des Walkman an, mit Lithiumbatterie, möglichem Strombetrieb durch die Powerbank und dem Versprechen eines 100-prozentigem Analoghörgenusses.

    Mein liebster Theorie-Reader aus dem Jahrzehnt versammelt Essays zur Postmoderne: „Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik“ 1990 bei Reclam Leipzig erschienen, mit Beiträgen von Michel Foucault, Paul Virilio, Gilles Deleuze, Hélène Cixous, Luce Irigaray, Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard und anderen. Philosophieästhetisch war das Buch damals Avantgarde und es ist immer noch lesenswert und antiquarisch erhältlich. Heute habe ich nochmal den Essay „Der Walkman-Effekt“ von Shuhei Hosokawa gelesen. Danach besteht die Bedeutung des Walkman in der Distanz, die er zwischen dem Anderen und dem Ich entstehen lässt. Der Walkman verschafft ein Überlegenheitsgefühl, er macht denjenigen, der ihn aufgesetzt hat, zum Geheimnisträger und in der Gesellschaft des Spektakels zum Schauspieler, während die anderen nur Zuschauer bleiben.

  • Die Schneekugel schütteln

    „Nur die Hunde können es klingeln hören“ – das ist ein geradezu therapeutischer kurzer Prosatext von Jonas Mieth, der einen fundamentalen, traumatisierenden Verlust bearbeitet. Hier ist der Link. Ein Bewusstseinsstrom? Nein, es ist viel mehr. Fasziniert lauschen wir einem atemlosen Erzähler, der seinen Verstand verliert. Ein Bewusstseinserweiterungstext, ein Bewusstseinsveränderungstext ganz im Sinne Michael Pollans Buch „Verändere dein Bewusstsein“. Ein Unterbewusstseinstext. Oder eine komplexe aktive Imagination im Sinne C.G. Jungs, in der sich jemand vom Ich zum Selbst bewegt. Der Text erzählt davon, wie das Ich in sich gefangen ist, wie es sich selbst gefesselt hat und plötzlich in Bewegung gerät, wie seine Konturen verschwimmen und sich auflösen und sich etwas in einem Kraftakt befreit oder wenigstens versucht sich zu befreien. Wir spüren, was selten in Literatur gelingt, dass das Ich eine Illusion ist. Der Text beschreibt ein Bewusstsein ohne das Gefühl eines Ich. Jedenfalls ohne das Gefühl eines menschlichen Ich. Jedenfalls zeitweise. Das Bewusstsein löst sich auf, es geht auf die Suche, es findet etwas, es verwandelt sich und es entsteht neu. Wer kontrolliert deinen Kortex? Think outside the box. Turn on, tune in, drop out. Ganz ohne LSD.

  • What I make of nothing

    White

    By Mark Strand

    Now in the middle of my life
    all things are white.
    I walk under the trees,
    the frayed leaves,
    the wide net of noon,
    and the day is white.
    And my breath is white,
    drifting over the patches
    of grass and fields of ice
    into the high circles of light.
    As I walk, the darkness of
    my steps is also white,
    and my shadow blazes
    under me. In all seasons
    the silence where I find myself
    and what I make of nothing are white,
    the white of sorrow,
    the white of death.
    Even the night that calls
    like a dark wish is white;
    and in my sleep as I turn
    in the weather of dreams
    it is the white shades of the moon
    drawn over my floor
    that save me for morning.
    And out of my waking
    the circle of light widens,
    it fills with trees, houses,
    stretches of ice.
    It reaches out. It rings
    the eye with white.
    All things are one.
    All things are joined
    even beyond the edge of sight.

  • Lagerfeuergeschichten


    Manchmal das Glück“ – unter diesem Titel erschien vor einigen Wochen das literarische Debüt von Ulrike Sabine Maier im PMLakeman Verlag: 17 Kurzgeschichten, die im Zeitraum von 2007 bis 2024 in Anthologien und Literaturzeitschriften erschienen sind und von denen einige Preise erhalten haben, eine davon den Putlizer Preis des Autorenverbandes 42er. Die Sprache ist in allen Geschichten poetisch, bildreich und ausdrucksstark. Die Themen kommen aus dem sozialen Umfeld, der Familie und der eigenen Geschichte der Figuren. Diese schleppen die prägendsten Momente mit sich, sie werden die Gespenster nicht los, verschüttete Erinnerungen, und immer wieder dachte ich an ein Zitat aus dem wunderbaren Film „Magnolia“: „Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.“ Und doch kommt der Humor nicht zu kurz. „Was ich in der Hand hielt, war eine Waffe ohne Patronentrommel, die wir auf einem Flohmarkt aufgetrieben hatten. Wider allen Erwartungen funktionierte die Beschaffung des Geldes ohne Verzögerung. Die Frau hinter der Glasscheibe übergab mir mit leerem Blick die Geldscheine, als hätte sie genau das erwartet. Von ihrem Leben. Einen munitionsfreien Überfall. Und nichts anderes.“ Ich stelle mir einen langen Leseabend aus diesem Buch vor, auf einem verwilderten Grundstück, im Herbst, während Holz für ein Lagerfeuer zusammengetragen wird, bis es weithin leuchtet. Es gibt nur wenige Geschichten aus dem Band, die noch bei Dämmerung gelesen werden können. Für andere Stories muss das Feuer brennen. Während wir wiederum anderen Geschichten lauschen, starren wir reglos in die Glut. Und dann gibt es Geschichten, die nur erzählt werden können, wenn es vollkommen dunkel geworden ist. Oder, wie es bei Ulrike Sabine Maier heißt: „Manche Geschichten bedürfen der Dunkelheit, um erzählt zu werden. Manche Geschichten bedürfen der richtigen Zeiten, um angeschaut zu werden. Manche Geschichten haben Wunden gerissen, die nicht bei Licht angeschaut werden können. (…) Das sind die Zeiten der Erzähler, der Dichter, um zu versöhnen, was offen lag.“

  • Christmas in Scotland (in the 1970s)

    In ihrem Kurzfilm Gasman zieht uns Lynne Ramsay mit den ersten Einstellungen ganz in die häusliche Szenerie und Unruhe einer Familie im Aufbruch. Schwarze Lederschuhe, von einem Mann im Unterhemd geputzt, werden scharfgestellt. Die Stimme der Mutter mahnt zur Eile. Jemand streut weißen Zucker in ein Spielzeugauto. Das Bügelbrett steht in der Küche. Das Mädchen ist noch nicht umgezogen. Innerhalb von Minuten erinnert sich der Körper daran, wie es war, eine Baumwollstrumpfhose anzuziehen, wie es war, wenn die Mutter dabei half, ein Kleid über den Kopf und über den Körper zu streifen. Der Film fängt die Atmosphäre der 70er Jahre in Schottland durch alle Sinne ein und es fällt nicht auf, dass er erst Ende der 90er gedreht wurde. Die Kleidung und die Musik sind das eine, vor allem aber ist es die soziale Atmosphäre, der Umgang mit Kindern, und man fragt sich, wie sie mit der Gewalterfahrung weiterleben. Auch dafür gibt es erste Antworten. Die Spannung funktioniert untergründig. Die Bildsprache ist kunstvoll und raffiniert; gesprochen wird eher wenig. Umso aussagekräftiger sind Gesten und kleine Handlungen, die sich wiederholen. Und die Gesichter. Immer wieder war ich erstaunt darüber, was in einem Bildrahmen gezeigt und was weggelassen wird. Lynne Ramsay zählt schon seit ihren ersten Filmen zu der von der Kritik gefeierten Independentszene in Schottland. Zwei ihrer Langfilme habe ich schon bestellt: Ratcatcher und Morvern Callar. Der Soundtrack von Morvern Callar liest sich wie ein Wunsch-Mixtape: Aphex Twins, Can, the Mamas & the Papas und sogar Boards of Canada ist dabei. Hier ist der Link zu Gasman (ca. 15 Minuten). Für mich ist Lynne Ramsay eine Entdeckung.

  • Sand ins narrative Getriebe streuen

    Da eine Teilnehmerin meiner Literaturwerkstatt in Darmstadt, Kameliya Taneva, beim 32. Open Mike in Berlin nominiert ist, habe ich mir vor einigen Tagen die Interviews mit den 12 Finalistinnen und Finalisten angesehen, also denen, die aus 500 Bewerbungen für den wichtigsten Literaturnachwuchspreis ausgewählt wurden. (Die Interviews finden sich hier auf dem Blog des Open Mike.) Als aktuellen Buchtipp nannte eine Autorin den Roman Yellow Face von Rebecca F. Kuang. „Harscher Blick auf den Literaturbetrieb“ – das waren die Stichworte, die mich zur Leseprobe brachten. Das Buch schließlich erwies sich für mich als absoluter Pageturner, eine außergewöhnliche Leseerfahrung. Die Geschichte spielt in der Szene ambitionierter Jungautorinnen im Osten der USA, die ihr erstes, zweites oder drittes Buch schreiben, und es zeigt die aktuellen Debatten und Zwänge des Literaturbetriebs auf, besonders auf social Media. Die Erzählerin und Hauptfigur, eine weiße US-Amerikanerin, die mit ihrem ersten Roman nicht so erfolgreich war wie ihre Freundin koreanischer Herkunft, stiehlt das Manuskript der verstorbenen Freundin und bearbeitet es. Thema dieses Manuskripts ist die Rekrutierung chinesischer Arbeiter während des Ersten Weltkriegs durch die britische Armee. Der rote Faden, der den Spannungsbogen von Yellow Face bildet, ist die Frage, ob der Betrug erkannt wird. Auf social Media wird zudem erbittert darüber debattiert, ob sich eine weiße Autorin einen Stoff aus der Geschichte Chinas aneignen darf. Das Leben einer jungen Autorin zwischen Bestsellerlisten, Verfilmungsvisionen, Schreibblockade, Podiumsdiskussionen, Workshopleitung – das Smartphone immer griffbereit. Rebecca F. Kuang zeigt, wie die Literaturbranche (nicht nur in den USA) funktioniert, wie Erfolg gemacht wird, wie Narrative manipuliert werden und wie fließend die Wahrheit ist.

  • Die Wahrnehmung der kleinsten Bewegung. Über Wim Wenders Film „Perfect Days“

    Die Herausforderung, über Filme zu sprechen und die erstaunlich verschiedenen Wahrnehmungen und Eindrücke nach dem Betrachten ein- und desselben Films habe ich schon als Kind erfahren. Wenn mein Bruder und ich einen Film gesehen hatten und unseren Eltern beim Abendessen davon erzählen wollten, war es immer mein vier Jahre älterer Bruder, der das Wort ergriff. Glatt und reibungslos fasste er das Gesehene zusammen, er skizzierte die Handlungsstränge, ordnete die Figurenkonstellationen und es gelang ihm sogar, am Ende seines Vortrags eine Pointe zu setzen. Ich saß staunend und sprachlos daneben. Ich hatte nicht nur etwas anderes gesehen, ich hatte auch etwas anderes erlebt. Manchmal fiel es mir schwer, Handlungsstränge zu entwirren, auch weil ich gern in Gedanken abschweifte und während des Films über das Gesehene nachdachte. Damals hätte ich es nicht so formulieren können, aber die Frage, die ich mir stellte, war etwa diese: Wie verhält es sich mit dem, was man in einem Film nicht direkt sehen kann, was mich aber auf einer tiefen Ebene berührt und beschäftigt?

    Jahrzehnte später fand ich Antworten in einem grandiosen Aufsatz von Georg Seeßlen mit dem Titel „Chaos der Bilder – Ordnung des Textes?“ Hier die für mich entscheidenden Passagen:

    Die Story ist nicht die Wiedergabe dessen, was wir gesehen haben, (…), es ist vielmehr eine Art der Rekonstruktion.

    Wenn also die Sprache [den Film, M.W.] übersetzen will, muss sie der Story misstrauen, ja, um das Übersetzungshandwerk überhaupt zu vollführen, sie dekonstruieren, und sie muss das Unsichtbare ebenso beschreiben wie das Sichtbare.

    Und schließlich, sinngemäß, kommt es bei der Kritik darauf an, dem Unbewussten, das im Film steckt, ein Bewusstsein zu geben, indem man seine Struktur erkennt.

    „Perfect Days“ von Wim Wenders wurde beim Internationalen Filmfestival von Cannes im Mai 2023 uraufgeführt und kam Ende 2023 in die Kinos. Je öfter ich „Perfect Days“ gesehen habe und je intensiver ich mich mit Hintergründen und auch den im Film gezeigten Büchern beschäftigt habe, umso mehr wurde mir klar, wie hier viele verschiedene Themen, Motive und Zeichen miteinander verknüpft sind, bis tief unter die Oberfläche der Bilder. Und letztlich ergibt daraus nicht nur eine Lebenshaltung, sondern auch eine politische Haltung: ein Eintreten für Humanität.

    Das Kino stellt immer eine Vermittlung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren her. Dabei darf das Geistige, auf das sich ein Film bezieht, nicht ein unbestimmt Jenseitiges sein, sondern es muss am Sichtbaren oder im Sichtbaren sichtbar werden. So formuliert es Taja Gut in einem Gespräch mit Wim Wenders am 2. März 1988, und Wim Wenders antwortet: „Das ist genau das, was Film kann. Es ist eigentlich die Basis davon. Deswegen ist das Filmemachen erfunden worden. Weil unser Jahrhundert das brauchte, eine solche Sprache, die direkt sichtbar machen konnte. Und das ist auch das Allerschönste in Filmen, wenn in einer ganz einfachen, ruhigen Darstellung von etwas Alltäglichem plötzlich etwas ganz Allgemeingültiges sichtbar wird. Wie in den ganzen Filmen von Yasujiro Ozu.“ Seine Wertschätzung gegenüber Ozu begründet Wim Wenders so: „Ozu war der einzige Filmemacher, von dem ich etwas lernte, weil seine Art, Geschichten zu erzählen. So ausschließlich darstellend war.“ Personen werden also durch das charakterisiert, was sie tun und wie sie es tun.

    Bevor ich einige ausgewählte Themen, Motive und Zeichen aus „Perfect Days“ näher betrachte, braucht es eine Zusammenfassung des Films. Da ich nach den Erfahrungen meiner Kindheit und nun auch noch nach der Lektüre von Georg Seeßlens Aufsatz nicht allzu mutig im Zusammenfassen von Filmen bin, bitte ich um Verständnis darum, dass ich der Einfachheit halber die Synopsis, die sich auf der Rückseite der DVD-Hülle befindet, zitiere, im Bewusstsein dessen, dass es sich hierbei bereits um eine Interpretation handelt:

    „Hirayama reinigt öffentliche Toiletten in Tokio. Er scheint mit seinem einfachen, zurückgezogenen Leben vollauf zufrieden zu sein und widmet sich abseits seines äußerst strukturierten Alltags seiner Leidenschaft für Musik, die er von Audiokassetten hört, und für Literatur, die er allabendlich in gebrauchten Taschenbüchern liest. Durch eine Reihe unerwarteter Begegnungen kommt nach und nach eine Vergangenheit ans Licht, die er längst hinter sich gelassen hat.“

    Beginnen wir mit der Dramaturgie. Wim Wenders grenzt sich gegen Filmemacher und Regisseure ab, die einen Film mit einem abgeschlossenen Drehbuch beginnen. „Perfect Days“ hat in seinem ersten Teil den Charakter eines Dokumentarfilms. In einem Gespräch mit Jonathan Simons im Januar 2020, abgedruckt im Offline-Journal „The Analog Sea Review“, Number Three, sagt Wim Wenders, er hätte entschieden, mehr Dokumentarfilme zu drehen, weil wenigstens niemand erwartet, dass man zu Beginn des Projekts weiß, wie es endet. Dennoch gibt es in „Perfect Days“ eine Dramatugie, sie hat nur ein anderes Fundament als üblich. In „Der Stand der Dinge“ sucht der Regisseur Friedrich, der einen Film in Portugal dreht, für den ihm aber das Geld ausgegangen ist, den Produzenten Gordon in den USA auf. Die beiden führen eine Unterredung in einem Wohnwagen zu dem Thema, was einen Film trägt. Gordon sagt, es bräuchte eine Geschichte. „Ein Film ohne eine Geschichte, das hält nicht. Genauso gut könntest du ein Haus ohne Mauern bauen. Das hält nicht. Ein Haus braucht Mauern.“ Und Friedrich entgegnet: „Warum Mauern? Der Raum zwischen den Personen kann die Decke tragen.“ Geschichten haben für ihn zu viele Regeln. So tragen auch in „Perfect Days“ die Beziehungen zwischen den Personen zur Dramaturgie bei.

    Betrachtet man die Personen, so fällt etwas auf, was zunächst erstaunlich wirken könnte: Obwohl Hirayama die zurückgezogenste, schweigsamste und am wenigsten in ein gesellschaftliches Leben integrierte Person ist, sind die sozialen Kontakte, die er pflegt, von großem Respekt und von Freundlichkeit getragen, ja, es sind bis auf eine Ausnahme (dazu später), die einzigen gelingenden Kontakte, während die Kontakte der anderen Personen zerbrechen. Hirayama grüßt fremde Personen, beispielsweise eine schüchterne junge Frau, die zur selben Zeit wie er ihr Pausenbrot auf einer Bank unter Bäumen verzehrt, er verlässt die Toilettenhäuschen, sobald jemand eine Kabine aufsuchen muss, er holt einen leise weinenden kleinen Jungen aus einer Toilettenkabine (der Junge saß angezogen sitzend da) und sucht mit ihm dessen Mutter, die ihn schon verzweifelt gesucht hat, er schenkt seinem jungen Kollegen Geld, damit dieser seine Freundin einladen kann. Hirayama trifft einen krebskranken Mann, den Exmann der Restaurantbesitzerin, und klärt gemeinsam mit ihm eine der Fragen, die dieser nie beantworten konnte in seinem Leben, nämlich, ob Schatten, wenn man sie übereinanderlegt, dunkler werden. Seine wahre Seelenverwandte ist seine Nichte Nico, die eines Abends unerwartet vor seiner Haustür steht, weil sie von zu Hause abgehauen ist. Mit Nico erlebt Hirayama unbeschwerte Tage. Sie begleitet ihn zur Arbeit, und während sie am ersten Tag nur etwas unbeholfen zuschaut, und es nicht fassen kann, welcher Tätigkeit ihr Onkel nun nachgeht, hat sie sich am zweiten Tag schon praktischer angezogen, hilft beim Putzen mit, und ihr schwarzes Outfit wirkt fast schon wie ein Arbeits-Overall. Nico ist eine Leserin, sie geht mit dem Eigentum von Hirayama respektvoll um, sie fragt, ob sie ein Buch ausleihen kann, das sie noch nicht zu Ende gelesen hat, während die Freundin des jungen Kollegen Hirayama eine seiner geliebten Audiokassetten klaut.

    Eine weitere wichtige Person ist die Besitzerin des Restaurants, das Hirayama seit sechs Jahren regelmäßig aufsucht, um dort zu Abend zu essen. Es ist eine Frau, die Hirayama etwas bevorzugt behandelt, indem sie ihm Drinks spendiert und ihm größere Portionen auf den Teller gibt. Eines Abends möchte Hirayama zu Beginn der Öffnungszeit das Restaurant betreten und er sieht, wie die Restaurantbesitzerin einen Mann umarmt. Hirayama läuft eilig davon. Wer hier vermutet, Hirayama selbst sei in die Restaurantbesitzerin verliebt, ist wohl zu stark in europäischem Denken verfangen. Aus Sicht eines Japaners dürfte sich die Situation so darstellen, dass er in den intimen Raum anderer eingetreten ist, deshalb verschreckt ist und sich schämt. Der krebskranke Mann bittet Hirayama darum, sich um seine Exfrau zu kümmern. In einigen Rezensionen wird an dieser Stelle in die Beziehung zwischen Hirayama und der Restaurantbesitzerin nun eine beginnende Liebesbeziehung hineininterpretiert. Ich sehe das anders. Das sichtbare Zeichen: Hirayama sucht das Restaurant bereits sechs Jahre lang auf und es ist unwahrscheinlich, dass sich jemand nach sechs Jahren Kontakt in jemanden verliebt. Das andere Zeichen ist raffinierter, und es verknüpft ein Buch, das Hirayama gelesen hat („Wilde Palmen“, von William Faulkner) mit dem Song „The House of  the Rising Sun“, das einzige Lied, das im Film zwei Mal gespielt wird: einmal läuft es in der Version von The Animals im Auto-Kassettenrecorder von Hirayama, und an einem Abend singt die Restaurantbesitzerin die japanische Fassung auf Wunsch ihrer Gäste. Das House of  the Rising Sun ist ein Bordell. In dem Roman von Faulkner verlässt eine Frau ihren Mann, weil sie sich in einen anderen verliebt hat. Auf einer Zugfahrt übergibt der Ehemann seine Frau an ihren Geliebten. Die Frau bezeichnet sich als Hure. Das neue Paar schlägt sich unter großen Schwierigkeiten finanziell durch, die Frau wird schwanger, eine Abtreibung durch den Geliebten, er war Assistenzarzt, misslingt. Die Frau stirbt und der Geliebte landet im Gefängnis. Man muss „Wilde Palmen“ nicht gelesen haben. Der Inhalt überträgt sich durch das Lied auch so.

    Mit dem dramaturgischen Höhepunkt des Films ist der Auftritt von Hirayamas Schwester verbunden, als diese, von Hirayama telefonisch verständigt, ihre Tochter abholt. Die Schwester steigt aus einem schwarzen großen Wagen, der von einem Chauffeur gesteuert wird, geradezu ein Todessymbol. An Nicos Widerstand, nach Hause zurückzukehren, wird erkennbar, dass sie sich mit ihrer Mutter überhaupt nicht versteht. An dieser Stelle spielt die zweite Literaturangabe, die im Abspann genannt wird, eine Rolle: die Kurzgeschichte „Die Schildkröte“ aus dem Band „Der Schneckenforscher“ von Patricia Highsmith. Diese Geschichte handelt von dem elfjährigen Viktor, der von seiner Mutter wenig liebevoll behandelt und sogar geschlagen wird. Viktor versteckt seine Bücher vor der Mutter. Eines Tages bringt die Mutter eine Schildkröte mit. Viktor freut sich, er spielt mit der Schildkröte, doch die Mutter wirft das Tier in kochendes Wasser und häutet es. Darauf bringt Viktor seine Mutter um. Nico sagt zu ihrem Onkel, dass sie sich mit Viktor identifiziert. Aber auch hier gilt: Man muss die Kurzgeschichte nicht gelesen haben. Das Unsichtbare wird auch so spürbar in der Szene, in der Nico ihrer Mutter begegnet.

    In der Szene mit der Schwester wird auch deutlich, dass Hirayama kein typischer Toilettenreiniger ist, sondern aus einer höheren Gesellschaftsschicht stammt. Hirayama erfährt, dass sein Vater nun in einem Pflegeheim lebt und nicht mehr so ist wie früher. Besuchen will er den Vater jedoch nicht. Diese Szene zeigt viel an Unsichtbarem: In der folgenden Nacht träumt Hirayama von einem in der Waagrechten liegenden Schatten. Bald sucht Hirayama einen Platz auf, an dem sich vermutlich das abgerissene Elternhaus befand. „Doch über die Erinnerungen hinaus ist das Elternhaus physisch in uns eingezeichnet“, schreibt Gaston Bachelard in „Poetik des Raumes“.

    Außer Hirayama und Nico führt uns Wenders Personen vor, die im Zustand der Entfremdung leben. In einer Besprechung von Godards Film „One Plus One“ in der Ausgabe 6/69 der „Filmkritik“ zitiert Wim Wenders eine Passage aus Ronald D. Laings Buch „Phänomenologie der Erfahrung“. Darin heißt es: „Wir sind sozial darauf trainiert, die totale Versenkung in den äußeren Raum und in die äußere Zeit für normal und gesund zu halten. (…) Für meine Begriffe ist es weitaus sinnvoller und außerdem dringender erforderlich, den inneren Raum und die innere Zeit des Bewusstseins zu erforschen.“ An anderen Stellen des Buches heißt es: „Wir sind hineingeboren in eine Welt, in der uns Entfremdung erwartet.“ „Da diese äußere Welt des Menschen fast völlig und total entfremdet ist von der inneren, enthält schon jede direkte Bewusstheit der inneren Welt schwere Risiken.“ Und, noch ein entscheidender Satz, eine Art Fazit: „Wie wir die Welt erfahren, so agieren wir.“

    In dem bereits erwähnen Interview in The Analog Sea Review sagt Wim Wenders, dass die meisten Menschen getrieben werden durch etwas, was sie von außen empfangen. Lesen war für ihn existenziell dafür, so zu werden, wie er ist.

    Hirayama ist wohl die reifste Figur im Kosmos von Wenders‘ Filmen. Hirayama hat seine Dämonen besiegt, er hat sich – vor Jahren – von seiner Familie und von seinem Vater befreit. Er wirkt identisch mit sich und bei sich angekommen, wie er Musik auf Kassetten hört, Setzlinge aus dem Park mit nach Hause nimmt und in lilafarbenem Licht sorgsam behandelt und mit großer Achtsamkeit seine Routinen pflegt. Auch die tägliche Wiederholung von Routinen ist für Hirayama kein Wiederholen des Immergleichen. Die Wiederholung ist Variation. In der Bildsprache wird dies gezeigt, indem tägliche Handlungen wie das Aufstehen, das Waschen des Gesichts, der Blick auf die Bäume nach dem Heraustreten aus dem Haus und der Gang zum Kaffee-Kühlautomaten stets von verschiedenen Kamerawinkeln aus gezeigt wird. Dies, und auch der Blick in die Blätter der Bäume, durch die das Sonnenlicht fällt, steht nicht nur für die Einzigartigkeit des Moments, sondern auch für ein Wahrnehmen der kleinsten Bewegung.

    In der Schlussszene fährt Hirayama im Auto zu seiner nächsten Schicht. Lange Zeit blickt er den Zuschauer direkt ins Gesicht. Mit diesem Tabu-Blick wird ein direkter Bezug zum Zuschauer hergestellt. Man kann diesen Blickkontakt als Aufforderung sehen oder als Einladung zur Identifikation.

    Vor allem dies zeigt „Perfect Days“: Die wichtigste Grundlage für Veränderung ist die Konzentration auf sich selbst. Das Lesen von Büchern ist die hilfreichste Unterstützung dabei. Wim Wenders erinnert an ein Bild des 20. Jahrhunderts, das jetzt schon aus dem Alltag der meisten Menschen verschwunden ist. Der Blick auf den bäuchlings liegenden, lesenden Hirayama – Buch und Gesicht vom warmen Licht einer Glühbirne beleuchtet – es ist nicht nur ein Motiv, es wirkt fast wie ein Gemälde und es hat bereits jetzt den Charakter einer Ikone.