• Christmas in Scotland (in the 1970s)

    In ihrem Kurzfilm Gasman zieht uns Lynne Ramsay mit den ersten Einstellungen ganz in die häusliche Szenerie und Unruhe einer Familie im Aufbruch. Schwarze Lederschuhe, von einem Mann im Unterhemd geputzt, werden scharfgestellt. Die Stimme der Mutter mahnt zur Eile. Jemand streut weißen Zucker in ein Spielzeugauto. Das Bügelbrett steht in der Küche. Das Mädchen ist noch nicht umgezogen. Innerhalb von Minuten erinnert sich der Körper daran, wie es war, eine Baumwollstrumpfhose anzuziehen, wie es war, wenn die Mutter dabei half, ein Kleid über den Kopf und über den Körper zu streifen. Der Film fängt die Atmosphäre der 70er Jahre in Schottland durch alle Sinne ein und es fällt nicht auf, dass er erst Ende der 90er gedreht wurde. Die Kleidung und die Musik sind das eine, vor allem aber ist es die soziale Atmosphäre, der Umgang mit Kindern, und man fragt sich, wie sie mit der Gewalterfahrung weiterleben. Auch dafür gibt es erste Antworten. Die Spannung funktioniert untergründig. Die Bildsprache ist kunstvoll und raffiniert; gesprochen wird eher wenig. Umso aussagekräftiger sind Gesten und kleine Handlungen, die sich wiederholen. Und die Gesichter. Immer wieder war ich erstaunt darüber, was in einem Bildrahmen gezeigt und was weggelassen wird. Lynne Ramsay zählt schon seit ihren ersten Filmen zu der von der Kritik gefeierten Independentszene in Schottland. Zwei ihrer Langfilme habe ich schon bestellt: Ratcatcher und Morvern Callar. Der Soundtrack von Morvern Callar liest sich wie ein Wunsch-Mixtape: Aphex Twins, Can, the Mamas & the Papas und sogar Boards of Canada ist dabei. Hier ist der Link zu Gasman (ca. 15 Minuten). Für mich ist Lynne Ramsay eine Entdeckung.

  • Sand ins narrative Getriebe streuen

    Da eine Teilnehmerin meiner Literaturwerkstatt in Darmstadt, Kameliya Taneva, beim 32. Open Mike in Berlin nominiert ist, habe ich mir vor einigen Tagen die Interviews mit den 12 Finalistinnen und Finalisten angesehen, also denen, die aus 500 Bewerbungen für den wichtigsten Literaturnachwuchspreis ausgewählt wurden. (Die Interviews finden sich hier auf dem Blog des Open Mike.) Als aktuellen Buchtipp nannte eine Autorin den Roman Yellow Face von Rebecca F. Kuang. „Harscher Blick auf den Literaturbetrieb“ – das waren die Stichworte, die mich zur Leseprobe brachten. Das Buch schließlich erwies sich für mich als absoluter Pageturner, eine außergewöhnliche Leseerfahrung. Die Geschichte spielt in der Szene ambitionierter Jungautorinnen im Osten der USA, die ihr erstes, zweites oder drittes Buch schreiben, und es zeigt die aktuellen Debatten und Zwänge des Literaturbetriebs auf, besonders auf social Media. Die Erzählerin und Hauptfigur, eine weiße US-Amerikanerin, die mit ihrem ersten Roman nicht so erfolgreich war wie ihre Freundin koreanischer Herkunft, stiehlt das Manuskript der verstorbenen Freundin und bearbeitet es. Thema dieses Manuskripts ist die Rekrutierung chinesischer Arbeiter während des Ersten Weltkriegs durch die britische Armee. Der rote Faden, der den Spannungsbogen von Yellow Face bildet, ist die Frage, ob der Betrug erkannt wird. Auf social Media wird zudem erbittert darüber debattiert, ob sich eine weiße Autorin einen Stoff aus der Geschichte Chinas aneignen darf. Das Leben einer jungen Autorin zwischen Bestsellerlisten, Verfilmungsvisionen, Schreibblockade, Podiumsdiskussionen, Workshopleitung – das Smartphone immer griffbereit. Rebecca F. Kuang zeigt, wie die Literaturbranche (nicht nur in den USA) funktioniert, wie Erfolg gemacht wird, wie Narrative manipuliert werden und wie fließend die Wahrheit ist.

  • Die Wahrnehmung der kleinsten Bewegung. Über Wim Wenders Film „Perfect Days“

    Die Herausforderung, über Filme zu sprechen und die erstaunlich verschiedenen Wahrnehmungen und Eindrücke nach dem Betrachten ein- und desselben Films habe ich schon als Kind erfahren. Wenn mein Bruder und ich einen Film gesehen hatten und unseren Eltern beim Abendessen davon erzählen wollten, war es immer mein vier Jahre älterer Bruder, der das Wort ergriff. Glatt und reibungslos fasste er das Gesehene zusammen, er skizzierte die Handlungsstränge, ordnete die Figurenkonstellationen und es gelang ihm sogar, am Ende seines Vortrags eine Pointe zu setzen. Ich saß staunend und sprachlos daneben. Ich hatte nicht nur etwas anderes gesehen, ich hatte auch etwas anderes erlebt. Manchmal fiel es mir schwer, Handlungsstränge zu entwirren, auch weil ich gern in Gedanken abschweifte und während des Films über das Gesehene nachdachte. Damals hätte ich es nicht so formulieren können, aber die Frage, die ich mir stellte, war etwa diese: Wie verhält es sich mit dem, was man in einem Film nicht direkt sehen kann, was mich aber auf einer tiefen Ebene berührt und beschäftigt?

    Jahrzehnte später fand ich Antworten in einem grandiosen Aufsatz von Georg Seeßlen mit dem Titel „Chaos der Bilder – Ordnung des Textes?“ Hier die für mich entscheidenden Passagen:

    Die Story ist nicht die Wiedergabe dessen, was wir gesehen haben, (…), es ist vielmehr eine Art der Rekonstruktion.

    Wenn also die Sprache [den Film, M.W.] übersetzen will, muss sie der Story misstrauen, ja, um das Übersetzungshandwerk überhaupt zu vollführen, sie dekonstruieren, und sie muss das Unsichtbare ebenso beschreiben wie das Sichtbare.

    Und schließlich, sinngemäß, kommt es bei der Kritik darauf an, dem Unbewussten, das im Film steckt, ein Bewusstsein zu geben, indem man seine Struktur erkennt.

    „Perfect Days“ von Wim Wenders wurde beim Internationalen Filmfestival von Cannes im Mai 2023 uraufgeführt und kam Ende 2023 in die Kinos. Je öfter ich „Perfect Days“ gesehen habe und je intensiver ich mich mit Hintergründen und auch den im Film gezeigten Büchern beschäftigt habe, umso mehr wurde mir klar, wie hier viele verschiedene Themen, Motive und Zeichen miteinander verknüpft sind, bis tief unter die Oberfläche der Bilder. Und letztlich ergibt daraus nicht nur eine Lebenshaltung, sondern auch eine politische Haltung: ein Eintreten für Humanität.

    Das Kino stellt immer eine Vermittlung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren her. Dabei darf das Geistige, auf das sich ein Film bezieht, nicht ein unbestimmt Jenseitiges sein, sondern es muss am Sichtbaren oder im Sichtbaren sichtbar werden. So formuliert es Taja Gut in einem Gespräch mit Wim Wenders am 2. März 1988, und Wim Wenders antwortet: „Das ist genau das, was Film kann. Es ist eigentlich die Basis davon. Deswegen ist das Filmemachen erfunden worden. Weil unser Jahrhundert das brauchte, eine solche Sprache, die direkt sichtbar machen konnte. Und das ist auch das Allerschönste in Filmen, wenn in einer ganz einfachen, ruhigen Darstellung von etwas Alltäglichem plötzlich etwas ganz Allgemeingültiges sichtbar wird. Wie in den ganzen Filmen von Yasujiro Ozu.“ Seine Wertschätzung gegenüber Ozu begründet Wim Wenders so: „Ozu war der einzige Filmemacher, von dem ich etwas lernte, weil seine Art, Geschichten zu erzählen. So ausschließlich darstellend war.“ Personen werden also durch das charakterisiert, was sie tun und wie sie es tun.

    Bevor ich einige ausgewählte Themen, Motive und Zeichen aus „Perfect Days“ näher betrachte, braucht es eine Zusammenfassung des Films. Da ich nach den Erfahrungen meiner Kindheit und nun auch noch nach der Lektüre von Georg Seeßlens Aufsatz nicht allzu mutig im Zusammenfassen von Filmen bin, bitte ich um Verständnis darum, dass ich der Einfachheit halber die Synopsis, die sich auf der Rückseite der DVD-Hülle befindet, zitiere, im Bewusstsein dessen, dass es sich hierbei bereits um eine Interpretation handelt:

    „Hirayama reinigt öffentliche Toiletten in Tokio. Er scheint mit seinem einfachen, zurückgezogenen Leben vollauf zufrieden zu sein und widmet sich abseits seines äußerst strukturierten Alltags seiner Leidenschaft für Musik, die er von Audiokassetten hört, und für Literatur, die er allabendlich in gebrauchten Taschenbüchern liest. Durch eine Reihe unerwarteter Begegnungen kommt nach und nach eine Vergangenheit ans Licht, die er längst hinter sich gelassen hat.“

    Beginnen wir mit der Dramaturgie. Wim Wenders grenzt sich gegen Filmemacher und Regisseure ab, die einen Film mit einem abgeschlossenen Drehbuch beginnen. „Perfect Days“ hat in seinem ersten Teil den Charakter eines Dokumentarfilms. In einem Gespräch mit Jonathan Simons im Januar 2020, abgedruckt im Offline-Journal „The Analog Sea Review“, Number Three, sagt Wim Wenders, er hätte entschieden, mehr Dokumentarfilme zu drehen, weil wenigstens niemand erwartet, dass man zu Beginn des Projekts weiß, wie es endet. Dennoch gibt es in „Perfect Days“ eine Dramatugie, sie hat nur ein anderes Fundament als üblich. In „Der Stand der Dinge“ sucht der Regisseur Friedrich, der einen Film in Portugal dreht, für den ihm aber das Geld ausgegangen ist, den Produzenten Gordon in den USA auf. Die beiden führen eine Unterredung in einem Wohnwagen zu dem Thema, was einen Film trägt. Gordon sagt, es bräuchte eine Geschichte. „Ein Film ohne eine Geschichte, das hält nicht. Genauso gut könntest du ein Haus ohne Mauern bauen. Das hält nicht. Ein Haus braucht Mauern.“ Und Friedrich entgegnet: „Warum Mauern? Der Raum zwischen den Personen kann die Decke tragen.“ Geschichten haben für ihn zu viele Regeln. So tragen auch in „Perfect Days“ die Beziehungen zwischen den Personen zur Dramaturgie bei.

    Betrachtet man die Personen, so fällt etwas auf, was zunächst erstaunlich wirken könnte: Obwohl Hirayama die zurückgezogenste, schweigsamste und am wenigsten in ein gesellschaftliches Leben integrierte Person ist, sind die sozialen Kontakte, die er pflegt, von großem Respekt und von Freundlichkeit getragen, ja, es sind bis auf eine Ausnahme (dazu später), die einzigen gelingenden Kontakte, während die Kontakte der anderen Personen zerbrechen. Hirayama grüßt fremde Personen, beispielsweise eine schüchterne junge Frau, die zur selben Zeit wie er ihr Pausenbrot auf einer Bank unter Bäumen verzehrt, er verlässt die Toilettenhäuschen, sobald jemand eine Kabine aufsuchen muss, er holt einen leise weinenden kleinen Jungen aus einer Toilettenkabine (der Junge saß angezogen sitzend da) und sucht mit ihm dessen Mutter, die ihn schon verzweifelt gesucht hat, er schenkt seinem jungen Kollegen Geld, damit dieser seine Freundin einladen kann. Hirayama trifft einen krebskranken Mann, den Exmann der Restaurantbesitzerin, und klärt gemeinsam mit ihm eine der Fragen, die dieser nie beantworten konnte in seinem Leben, nämlich, ob Schatten, wenn man sie übereinanderlegt, dunkler werden. Seine wahre Seelenverwandte ist seine Nichte Nico, die eines Abends unerwartet vor seiner Haustür steht, weil sie von zu Hause abgehauen ist. Mit Nico erlebt Hirayama unbeschwerte Tage. Sie begleitet ihn zur Arbeit, und während sie am ersten Tag nur etwas unbeholfen zuschaut, und es nicht fassen kann, welcher Tätigkeit ihr Onkel nun nachgeht, hat sie sich am zweiten Tag schon praktischer angezogen, hilft beim Putzen mit, und ihr schwarzes Outfit wirkt fast schon wie ein Arbeits-Overall. Nico ist eine Leserin, sie geht mit dem Eigentum von Hirayama respektvoll um, sie fragt, ob sie ein Buch ausleihen kann, das sie noch nicht zu Ende gelesen hat, während die Freundin des jungen Kollegen Hirayama eine seiner geliebten Audiokassetten klaut.

    Eine weitere wichtige Person ist die Besitzerin des Restaurants, das Hirayama seit sechs Jahren regelmäßig aufsucht, um dort zu Abend zu essen. Es ist eine Frau, die Hirayama etwas bevorzugt behandelt, indem sie ihm Drinks spendiert und ihm größere Portionen auf den Teller gibt. Eines Abends möchte Hirayama zu Beginn der Öffnungszeit das Restaurant betreten und er sieht, wie die Restaurantbesitzerin einen Mann umarmt. Hirayama läuft eilig davon. Wer hier vermutet, Hirayama selbst sei in die Restaurantbesitzerin verliebt, ist wohl zu stark in europäischem Denken verfangen. Aus Sicht eines Japaners dürfte sich die Situation so darstellen, dass er in den intimen Raum anderer eingetreten ist, deshalb verschreckt ist und sich schämt. Der krebskranke Mann bittet Hirayama darum, sich um seine Exfrau zu kümmern. In einigen Rezensionen wird an dieser Stelle in die Beziehung zwischen Hirayama und der Restaurantbesitzerin nun eine beginnende Liebesbeziehung hineininterpretiert. Ich sehe das anders. Das sichtbare Zeichen: Hirayama sucht das Restaurant bereits sechs Jahre lang auf und es ist unwahrscheinlich, dass sich jemand nach sechs Jahren Kontakt in jemanden verliebt. Das andere Zeichen ist raffinierter, und es verknüpft ein Buch, das Hirayama gelesen hat („Wilde Palmen“, von William Faulkner) mit dem Song „The House of  the Rising Sun“, das einzige Lied, das im Film zwei Mal gespielt wird: einmal läuft es in der Version von The Animals im Auto-Kassettenrecorder von Hirayama, und an einem Abend singt die Restaurantbesitzerin die japanische Fassung auf Wunsch ihrer Gäste. Das House of  the Rising Sun ist ein Bordell. In dem Roman von Faulkner verlässt eine Frau ihren Mann, weil sie sich in einen anderen verliebt hat. Auf einer Zugfahrt übergibt der Ehemann seine Frau an ihren Geliebten. Die Frau bezeichnet sich als Hure. Das neue Paar schlägt sich unter großen Schwierigkeiten finanziell durch, die Frau wird schwanger, eine Abtreibung durch den Geliebten, er war Assistenzarzt, misslingt. Die Frau stirbt und der Geliebte landet im Gefängnis. Man muss „Wilde Palmen“ nicht gelesen haben. Der Inhalt überträgt sich durch das Lied auch so.

    Mit dem dramaturgischen Höhepunkt des Films ist der Auftritt von Hirayamas Schwester verbunden, als diese, von Hirayama telefonisch verständigt, ihre Tochter abholt. Die Schwester steigt aus einem schwarzen großen Wagen, der von einem Chauffeur gesteuert wird, geradezu ein Todessymbol. An Nicos Widerstand, nach Hause zurückzukehren, wird erkennbar, dass sie sich mit ihrer Mutter überhaupt nicht versteht. An dieser Stelle spielt die zweite Literaturangabe, die im Abspann genannt wird, eine Rolle: die Kurzgeschichte „Die Schildkröte“ aus dem Band „Der Schneckenforscher“ von Patricia Highsmith. Diese Geschichte handelt von dem elfjährigen Viktor, der von seiner Mutter wenig liebevoll behandelt und sogar geschlagen wird. Viktor versteckt seine Bücher vor der Mutter. Eines Tages bringt die Mutter eine Schildkröte mit. Viktor freut sich, er spielt mit der Schildkröte, doch die Mutter wirft das Tier in kochendes Wasser und häutet es. Darauf bringt Viktor seine Mutter um. Nico sagt zu ihrem Onkel, dass sie sich mit Viktor identifiziert. Aber auch hier gilt: Man muss die Kurzgeschichte nicht gelesen haben. Das Unsichtbare wird auch so spürbar in der Szene, in der Nico ihrer Mutter begegnet.

    In der Szene mit der Schwester wird auch deutlich, dass Hirayama kein typischer Toilettenreiniger ist, sondern aus einer höheren Gesellschaftsschicht stammt. Hirayama erfährt, dass sein Vater nun in einem Pflegeheim lebt und nicht mehr so ist wie früher. Besuchen will er den Vater jedoch nicht. Diese Szene zeigt viel an Unsichtbarem: In der folgenden Nacht träumt Hirayama von einem in der Waagrechten liegenden Schatten. Bald sucht Hirayama einen Platz auf, an dem sich vermutlich das abgerissene Elternhaus befand. „Doch über die Erinnerungen hinaus ist das Elternhaus physisch in uns eingezeichnet“, schreibt Gaston Bachelard in „Poetik des Raumes“.

    Außer Hirayama und Nico führt uns Wenders Personen vor, die im Zustand der Entfremdung leben. In einer Besprechung von Godards Film „One Plus One“ in der Ausgabe 6/69 der „Filmkritik“ zitiert Wim Wenders eine Passage aus Ronald D. Laings Buch „Phänomenologie der Erfahrung“. Darin heißt es: „Wir sind sozial darauf trainiert, die totale Versenkung in den äußeren Raum und in die äußere Zeit für normal und gesund zu halten. (…) Für meine Begriffe ist es weitaus sinnvoller und außerdem dringender erforderlich, den inneren Raum und die innere Zeit des Bewusstseins zu erforschen.“ An anderen Stellen des Buches heißt es: „Wir sind hineingeboren in eine Welt, in der uns Entfremdung erwartet.“ „Da diese äußere Welt des Menschen fast völlig und total entfremdet ist von der inneren, enthält schon jede direkte Bewusstheit der inneren Welt schwere Risiken.“ Und, noch ein entscheidender Satz, eine Art Fazit: „Wie wir die Welt erfahren, so agieren wir.“

    In dem bereits erwähnen Interview in The Analog Sea Review sagt Wim Wenders, dass die meisten Menschen getrieben werden durch etwas, was sie von außen empfangen. Lesen war für ihn existenziell dafür, so zu werden, wie er ist.

    Hirayama ist wohl die reifste Figur im Kosmos von Wenders‘ Filmen. Hirayama hat seine Dämonen besiegt, er hat sich – vor Jahren – von seiner Familie und von seinem Vater befreit. Er wirkt identisch mit sich und bei sich angekommen, wie er Musik auf Kassetten hört, Setzlinge aus dem Park mit nach Hause nimmt und in lilafarbenem Licht sorgsam behandelt und mit großer Achtsamkeit seine Routinen pflegt. Auch die tägliche Wiederholung von Routinen ist für Hirayama kein Wiederholen des Immergleichen. Die Wiederholung ist Variation. In der Bildsprache wird dies gezeigt, indem tägliche Handlungen wie das Aufstehen, das Waschen des Gesichts, der Blick auf die Bäume nach dem Heraustreten aus dem Haus und der Gang zum Kaffee-Kühlautomaten stets von verschiedenen Kamerawinkeln aus gezeigt wird. Dies, und auch der Blick in die Blätter der Bäume, durch die das Sonnenlicht fällt, steht nicht nur für die Einzigartigkeit des Moments, sondern auch für ein Wahrnehmen der kleinsten Bewegung.

    In der Schlussszene fährt Hirayama im Auto zu seiner nächsten Schicht. Lange Zeit blickt er den Zuschauer direkt ins Gesicht. Mit diesem Tabu-Blick wird ein direkter Bezug zum Zuschauer hergestellt. Man kann diesen Blickkontakt als Aufforderung sehen oder als Einladung zur Identifikation.

    Vor allem dies zeigt „Perfect Days“: Die wichtigste Grundlage für Veränderung ist die Konzentration auf sich selbst. Das Lesen von Büchern ist die hilfreichste Unterstützung dabei. Wim Wenders erinnert an ein Bild des 20. Jahrhunderts, das jetzt schon aus dem Alltag der meisten Menschen verschwunden ist. Der Blick auf den bäuchlings liegenden, lesenden Hirayama – Buch und Gesicht vom warmen Licht einer Glühbirne beleuchtet – es ist nicht nur ein Motiv, es wirkt fast wie ein Gemälde und es hat bereits jetzt den Charakter einer Ikone.

  • Restaurant d‘ Horizont

    Es ist zwar nicht das einzige Restaurant im Ort, aber es liegt an der schönsten Stelle. Hinter dem Fenster rauscht das Wasser bis weit über die Linie, über der der Himmel beginnt. Wenn das Sonnenlicht am Abend grell auf die Körper trifft, beginnt ein Schattenspiel Die Kellner tragen die Tabletts in einer eleganten Haltung. Sie präsentieren die Getränke mehr, als dass sie sie liefern. Bevor die Sonne hinter dem Meer verschwindet, taucht sie die Szenerie in rotes Licht. Jetzt sind die Menschen demütig und still, sie spüren sich als Teil von etwas.

  • Der Rausch beim Texte-Sequencing

    Vor mehr als einem Jahr habe ich mit der Planung begonnen und ich habe mich viele Monate auf das Projekt konzentriert; nun ist es fast abgeschlossen. Im Februar 2025 feiere ich das 20-jährige Bestehen meiner Literaturwerkstatt in Darmstadt. Dann wird eine Anthologie bei hochroth Heidelberg erscheinen, für die ich eine Auswahl meiner Lieblingstexte aus rund 250 Seminaren zusammengestellt habe: Auszüge aus Romanen und Kurzgeschichten, Gedichte, Kürzestgeschichten, und eine Filmszene ist auch dabei. Auf 54 Seiten – das ist der Umfang der hochroth-Bücher, die Stück für Stück von Hand hergestellt werden – bringe ich mein Vorwort, Texte von 27 Autorinnen und Autoren und die Kurzbiographien unter. Der letzte Schritt war eine Herausforderung, für die ich mir mehrere Tage Zeit genommen habe: Wie die Texte in eine Reihenfolge bringen? Sehr hilfreich war dabei das, was Michael immer wieder über das Sequencing der Musikstücke bei der Zusammenstellung seiner Sendungen schrieb. Also nicht nur von Stück zu Stück, von Text zu Text denken, sondern in großen Linien, in Spannungsbögen, in Strukturen, und schließlich auch in einem Rahmen. Motive aufgreifen, Stimmungen, Themen. Dabei halfen mir meine Analyse, Zufall, Intuition und eine Prise Magie. Die Auswahl der Texte selbst habe ich ohne Rücksicht auf die Zusammenstellung getroffen. Auszüge aus längeren Texten mussten auch ohne Kenntnis des Gesamtzusammenhangs funktionieren. Aus dem aktuellen Seminar sind alle Autorinnen und Autoren vertreten; schließlich stellt das Buch auch eine Gemeinschaft her. Hier ein Einblick, ohne Namen zu nennen, ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten, nur einzelne Punkte, an die angedockt wird. Verbindungslinien gäbe noch mehr. Zwei Texte erzählen von etwas, während sich eine Gruppe von Personen versammelt. Den einen Text, eine Seminarsituation, setze ich an den Beginn, den andern Text ans Ende des Buches. Zwischen die ersten beiden Prosatexte setze ich ein Gedicht, das einen gemeinsamen Gedanken aufgreift: die Suche nach Worten. Der dritte Prosatext endet mit einer irreal anmutenden Szene, die, was damals im Seminar fast alle überrascht hat, jedoch realistisch ist. Der nächste Text beginnt mit einer Szene, die sich in einem Klassenzimmer abspielt und nicht real geschehen kann, auch wenn die Lehrerin gerade abwesend ist. Einem zweifelnden Liebesgedicht folgt ein düsteres Liebesgedicht. Dann: Unheimlichkeiten, mildes, abendliches Licht, ein sonnendurchfluteter Wald, Gedanken, wie Wald entsteht, dann der einzige Text, in dem ein Stück Natur beschrieben wird, ohne Menschen. Im nächsten Gedicht bewegt sich jemand durch ein Stück Natur, in Aufruhr. Ein Prosatext endet in einer Art gemeinsamem Urschrei, im Hintergrund der Mond, ein nächtliches Licht, das ein Gedicht aufnimmt. Weitere Texte behandeln Fragen der Zugehörigkeit. Zwei Prosatexte sind einerseits verbunden dadurch, dass sie in der Vergangenheit spielen, der eine 1935, der andere 1911, zum zweiten auch durch eine Zeichnung, einmal am Rand, einmal im Zentrum. Es folgt eine irritierende, verunsichernde Erfahrung eines berufstätigen Mannes auf dem Nachhauseweg. Ein Mädchen, ein Mann: das ist auch die Konstellation im nächsten Text. Machtausübung zwischen den Geschlechtern. Wie einer Rollenzuschreibung entfliehen? Der Gedanke des Neuanfangs verbindet zwei Texte. Ein Kaffee to go im Sommer im letzten Gedicht. Dann schließt sich der Kreis. Und noch ein Gedanke aus dem musikalischen Sequencing: Kill your darlings. Wenn es dem gelungenen Sequencing dient, lasse ich bei solchen Autorinnen, von denen ich mehrere Gedichte aufgenommen habe, eines weg. Selbst wenn die Verbindungslinien nur indirekt wirken, bin ich mir sicher, dass sie wirken.

    Viele Autorinnen und Autoren der Anthologie sind auf unterschiedlichen Gebieten im Literaturbetrieb in Erscheinung getreten: Sie haben in Zeitschriften und Anthologien publiziert, Bücher veröffentlicht, Preise und Stipendien erhalten. Sie leiten eigene Schreibseminare, geben Literaturzeitschriften und Anthologien heraus, sind Mitglieder von Autorenvereinigungen, sitzen in Jurys von Literaturpreisen, machen Radiosendungen, organisieren Lesungen etc. Literarische Texte zu schreiben und daran zu feilen, bis Literatur daraus wird: Das ist ein langer Weg ins Ungewisse hinein. Und man hört sie doch.

  • Bunter Spargelsalat

    Spargel schälen, in mundgerechte Stücke schneiden und kochen
    Erdbeeren
    Gelbe Paprika
    Frische Gurke
    Avocado
    Nüsse, z.B. Walnuss
    Pro Person ein hartgekochtes Ei
    Räuchertofu in Stücke schneiden und anbraten

    Dressing: Olivenöl, weißer Balsamico, Salz, Pfeffer, evtl. noch etwas Orangensaft.

    Die Zutaten in mundgerechte Stücke schneiden. Menge je nach Bedarf. Die Kombination von Spargeln und Erdbeeren gibt es nur ein paar Wochen im Jahr. Das ist ein Fitnesssalat, erfrischend und sättigend. Wer keinen Tofu mag, könnte ihn mit Garnelen oder Fleisch ersetzen. Copyright liegt bei mir 🙂

  • The Boredom Game

    In the 70s, children’s playgrounds were different from today. They were more inviting to hang out and think of things to do. Near our house in the development area, there were two large new playgrounds. One was built as a fort. Rough beams of dark wood framed it. While long-haired teenage girls or boys in their bell-bottom jeans sat on the benches next to boom boxes, trying to look cool while smoking cigarettes, we ran around, balancing over the fort and jumping off the edge into the soft sand as if it was a jump from the two-meter board at a pool. On the other playground, there was a wooden Indian tent where we found shelter when it rained. When we couldn’t think of anything else to do, we played the Boredom Game. I invented it. In the sand zone there was a row of rough beams arranged in the shape of a corner and there were three cement cubes. It was a construction that we didn’t know what it was for. The generosity of the arrangement somehow reminded me of a seating area in a living room. I still remember the sequence of movements. Stepping on one cement cube, climbing onto the beam (at best without using your hands), balancing along the row of beams for three meters, then the bend to the right and balancing another three meters. Jumping on the first cement cube, jumping on the second cement cube, never touching the sand, the abyss, the sea. Jump on the third cement cube, then back onto the beam and the round starts again. If you fall off, you’re out.

    Decades later, an elementary school teacher told me that these games had a tremendous impact on children’s language development, and that today, as children spend more and more time with electronic devices and learn less and less to move their bodies skillfully, they are often unable to develop their language properly. Back then, we didn’t know how important it was for us to train our bodies, to let boredom take over, and to organize the afternoons ourselves until it was time to go home – at the latest when the lanterns began to shine.