– 25 –

25 – Blumfeld – Old Nobody

Fast wird mir schwindelig, wenn ich an meine Jahre Anfang bis Mitte 20 denke. Auszug von zu Hause. 5 Umzüge: nach Potsdam, dann noch zweimal innerhalb Potsdams, nach Potsdam, New York im Nordosten der USA – ein Auslandsjahr an der Partneruniversität – mit Mitte 20 schließlich nach Berlin. WG Leben. Ich studiere Anglistik/Amerikanistik und Geschichte. Ich lerne meine jetzige Frau kennen. Ich werde Vater.

Klar, jede Menge Musik. Elektronische Musik kommt in mein Leben. Reggae, Dub. Trip Hop. Stundenlanges Tanzen in Berliner Clubs. Berlin ist in den 90er Jahren ein toller, für mich magischer Ort, viele Nischen, viele Freiräume. Durchfeierte Nächte. Und alles ist sehr günstig.

An meinem 25. Geburtstag, meine Freundin ist schwanger, feiern wir eine große WG-Party. Viele Freunde kommen, auch H und C, die damals bei der Musikzeitschrift Intro arbeiten. Sie bringen mir eine gebrannte CD mit, darauf das neue Album von Blumfeld, das erst in 6 Wochen erscheinen wird. Old Nobody.

Blumfeld hatten 1992 und 1994 jeweils ein Album veröffentlich, Ich-Maschine und L’etat Et Moi. Gitarren, Bass und Schlagzeug, eine flirrende Musik, mit seltsam atemlosen, vom Hip Hop beeinflussten, eher gesprochenen als gesungenen Texten, Geflechten aus Zitaten, Alltagssprache, Poesie und Diskurs, inhaltlich zwischen Gesellschaftsanalyse und Liebesliedern. Chiffernschriften, die sich in meine Gedanken einnisten.

Und nun also diese CD. Ich packe die zur Seite, mixe Cocktails, wir feiern bis zum Morgengrauen, überall in der Wohnung schlafen Menschen. Dann zum Frühstück lege ich sie in den Ghettoblaster in der Küche. Das erste Stück ist ein langes Gedicht, spoken words, wird schnell übersprungen.

What is this shit? Statt verzerrten Gitarren eine Drum Machine, Keyboard Flächen, sanfte, verträumte Gitarrenklänge. „In mir 1000 Tränen Tief/ Erklingt ein altes Lied/Es könnte viel bedeuten“. Eindeutige Texte, der Sänger Jochen Distelmeyer singt davon, in den Alltag zu wollen, stets dem Leben zugewandt zu sein, darüber sich gegenseitig „tief, ganz tief“ in die Augen zu sehen, „Küss mich dann/Wie zum ersten Mal“, „Da steht ein Pferd auf dem Flur.“ Und genau: er singt, ich mochte es doch immer so gerne, wenn er spricht. Und: es gibt im zweiten Song einen Kinderchor. 

Der zweite Song klingt wie eine weichgespülte Blumfeld Coverversion, der nächste ist wieder schrecklich melodisch, im dritten läuft ein Disco Beat im Hintergrund. Was bitte ist hier los, was soll das?

Wir coolen Menschen Mitte 20 stehen verkatert in der Küche und sind ratlos, warum unsere Helden nicht mehr cool sind. Sondern: Gefühlvoll, weich, poppig. Und dann machen wir das Album wieder an. Und wieder. Und wieder. Und es läuft immer noch. In fünf Wochen gehe ich – doppelt so alt wie 1998 – zum Solo Konzert von Jochen Distelmeyer. Ick freu mir drauf.

5 Kommentare

  • Lajla

    Blumfeld. Als ich noch im Goethe-Institut arbeitete, egal wo in der Welt, bot ich als deutsches Kulturgut immer Blumfeld an. Bis heute Fan.

  • Michael

    Blumfeld ist komplett an mir vorübergegangen … kann mich aber gut an den Kulturschock vieler Hörer erinnern als sein Popalbum mit sanften Texten rauskam … welche Version von ihm ist denn auf dem Konzert zu erwarten

  • Olaf Westfeld

    Auf dem Konzert wird er Akustikversionen spielen. Aus einem Interview auf die Frage, wie es zu der Akustiktour kam: „Weil ich gucken wollte, wie es sich anfühlt, die Lieder mit der Akustikgitarre zu spielen. Vielleicht auch, um die ein oder anderen Sachen noch mal in dieser Form aufzunehmen. Weil immer, wenn ich das dann allein gespielt habe, dachte: ja, das ist eigentlich schon alles auch drin.“

    Jochen Distelmeyer Konzerte kann ich nur empfehlen, die machen sehr viel Spaß und gute Laune. Im September spielt er in Leipzig, Hannover, Bochum, Frankfurt, Wiesbaden:
    https://www.eventim.de/artist/jochen-distelmeyer/?affiliate=GMD

    Sehr gute Auswahl als deutsches Kulturgut! 🍻

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