Japanische Meisterklasse

Gestern gesehen: „Poor Things“, den teils gelobten, teils sehr kritisch betrachteten Film von Yorgos Lanthimos. Hat mich leider nicht besonders gut unterhalten, war mir letztlich viel zu viel knallbuntes Spektakel und Manieriertheit und zu viel der ständigen nervig-manierierten Fischaugenoptik (die mir nicht einleuchtet und stets vom Inhalt ablenkt) für letztlich zu wenig Tiefgang und ganze 140 Minuten Laufzeit. Sehr viele Motive werden angerissen, aber kaum etwas wird wirklich vertieft. Nach 90 Minuten hab ich sogar überlegt, ob ich nach Hause gehen soll, weil’s einfach ein bisschen viel Aufwand war für letztlich wenig, was man „mitnehmen“ konnte. Ich hatte nach anderen Rückmeldungen zumindest erwartet, dass der Film einen gewissen Unterhaltungscharme hätte – was sich bedauerlicherweise niicht eingelöst hat. Willem Dafoes Figur fand ich bemerkenswerter Weise am interessantesten. Ansonsten teile ich die häufig geäußerte Kritik, dass der Film mehr wie ne artsy intellektuelle Männer-Regie-Fantasie daherkommt als dass er wirklich was über die Frauenfigur erzählt, was nicht bereits Mitte der 1960er bereits Buñuel (besonders „Belle de Jour“ wird immer wieder als offenkundige Referenz genannt) und Polanski recht ähnlich zu sagen hatten. Daher: Okay, aber weit vom Geniestreich entfernt. 3 Sterne für Schauspielleistungen und viele Ideen und buntes „Worldbuilding“.

Heute gesehen: „Evil does not exist“, den neusten Film vom japanischen Oscar-Preisträger Ryu Hamaguchi. Interessant, so im direkten Vergleich, wie Hamaguchi in ca. 100 Minuten mit unfassbar viel weniger Aufwand und „Regie-Mätzchen“ und viel weniger (auch finanziellen) Mitteln letztlich doch mehr in die Tiefe geht und (ebenfalls) viele Themen parallel aufgreifen kann, ohne dass sich dabei das gelangweilte Gefühl einstellt, hier würde einfach mal ein großer Eimer verschiedener Themen ausgekippt.

Nicht ganz die Meisterklasse von „Drive My Car“ (ist offenkundig auch gar nicht angelegt), aber echt stark, wie Hamaguchis Regie durch ungeheuer klare Entscheidungen und Fokus und einen wachen Blick auf die gegenwärtige Welt mit zugleich souveräner Erzählperspektive auf Japan besticht. Das Publikum war sehr berührt (wie das anschließende Livegespräch in 22 deutschen Kinos zeigte). Ein erstaunlich wagemutiger Film, der erzählerisch auch ein wenig provokant ist und bekräftigt, dass Ryu Hamaguchi einer der besten Regisseure seiner (=meiner) Generation ist. 4,5 Sterne.

Am Sonntag schau ich mir nochmal „Opus – Ryuichi Sakamoto“ an (ebenfalls 4,5 Sterne). Lohnt ungemein in einem schönen Kinosaal mit sehr gutem Ton. Sehr berührender, sehr einfacher Film, in großartigen Bildern. Eine ungewöhnliche Autobiografie in 20 Stücken von 1978 bis zu Sakamotos letztem Lebensjahr.

5 Kommentare

  • flowworker

    Japanisches Querbeet mit einem Ausreisser: Bei Poor Things habe ich nach 30 Minuten mein Kino verlassen, zum Glück daheim den grossen Bildschirm. Vielleicht erwische ich den jap. Film noch im realen Kino. Dieses Dauerschmuddelwetter ist ideal für abendliche Streifzüge in andere Welten. Diese minmalen Mittel sind ja bekanntlich auch den Spielarten japanischer Ambient Music zueigen, und zuletzt lief bei mir wieder SURROUND, und zwar gerne auf repeat. (m.e.)

  • radiohoerer

    Opus – Ryuichi Sakamoto von Sakamotos Sohn ist ein bewegendes Statement eines großen Künstlers, der auf sein Werk zurückblickt. Ruhig und konzentriert, ohne Pathos. Ein großartiger Film! Leider muss ich noch auf „Evil does not exist“ warten. Ist hier noch nicht in den Kinos.

  • Ingo J. Biermann

    Und gleich noch eine nachdrückliche Kino-Empfehlung (Warnhinweis: Nichts für schwache Nerven): „Civil War“ von Alex Garland – sehr, sehr guter Film. Hätt ich nicht gedacht, nachdem Garlands bisherige Filme zwar durchaus sehenswert waren, fand ich seine Amazon-Prime-Serie „Devs“ leider recht schnell unausgegoren und zunehmend nervig und hab’s dann nicht zu Ende geschaut, aber sein neuer Film „Civil War“ ist eine andere Klasse, auch nach den bisherigen, schon sehr guten Filmen, gerade auch für US-amerikanisches Kino. Und Kirsten Dunst mit oscar-reifer Schauspielleistung.

    „Civil War“ ist, anders als der Trailer nahelegen könnte, weit davon entfernt, ein plumper dystopischer Actionthriller zu sein. Auch lässt sich das Szenario nicht als Kommentar zu Donald Trump und dessen autoritärer rechter Politik lesen. Wie in all seinen Filmen geht es Alex Garland um strukturelle und philosophische Fragen. In seinem Horrorfilm „Men“ hatte er die mythischen Dimensionen missbräuchlicher Männlichkeit offengelegt; jetzt geht es ihm in „Civil War“ um Bilderpolitiken und das journalistische Geschäft mit dem Krieg.

    (…) Doch „Civil War“ belässt es nicht bei dieser Reflexion über den Journalismus. Vielmehr entwickelt sich der Film zunehmend zu einer beißenden Kritik an der Hybris der Vereinigten Staaten. (…)„Civil War“ ist ein ganz großer, selbstbewusster und kluger Film über unsere Gegenwart.

    https://www.filmdienst.de/film/details/622628/civil-war#filmkritik

    Ein Bekannter von mir schreibt auf Facebook:

    Nach dem großen, aufwühlenden Kinoerlebnis erst vor wenigen Wochen, welches unseren Blick auf das Grauen, die Barbarei und Gewalt meisterlich über das Ohr umgelenkt hat, nun ein nicht weniger komplexes Nachspüren & -Denken über den Kino-Blick, der uns jetzt direkt über den Sucher in den Abgrund schauen lässt und dann immer wieder abdrückt. Zuschreibungen, Lager, Rahmen und Schubladen, werden uns kongenial vorenthalten, stattdessen wird direkt und ohne Umschweife ins Herz der Finsternis losgesteuert. So unmittelbar und unentrinnbar, wie das wohl seit BATTLE OF ALGIERS, APOCALYPSE NOW und UNIVERSAL SOLDIER: DAY OF RECKONING kein Kinofilm über den Krieg bislang gewagt hat. Maximal aufwühlend, wahnsinnig intensiv. Dazu noch mit einem Song- und Sounddesign, das meisterlich zu nennen, sicher zu kurz greift. Mit einem besonnenen Gespür für die Gegenwart, dabei maximal grenzüberschreitend und voller Zutrauen auf Deine Belastbarkeit und Deinen wachen Blick unten im Kinosaal. Spätestens in den letzten Minuten dieses wahrlich furios endenden Meisterwerks, entsteht ein derart intensives Gefühl für den Rausch, den man erlebt, wenn man bei unmittelbarer Geschichtsschreibung direkt dabei ist, wie ich ihn so noch nicht zuvor im Kino erlebt habe. Was für eine Erfahrung. Unfassbar.

    https://www.facebook.com/photo/?fbid=8214029131946003&set=a.292798250735837

  • flowworker

    Oh, da bin ich gespannt. Alex Garland hat mit Ex Machina und Auslöschung / Annihilation zwei Filme gemacht, die ich mehrfach gesehen habe. Meine favourites von ihm.

  • Ingo J. Biermann

    In dem Fall sollte ich vielleicht dazusagen, dass „Civil War“ entgegen der ersten beiden Filme, die ja noch eher im Arthouse angesidelt sind, klar das Bestreben hat im „Mainstream“ zu erzählen. (Was ich bei dieser Thematik auch keine blöde Idee finde.) Nicht umsonst hat der Film wohl direkt den ersten Platz der US-Kinocharts erreicht. Der Film ist letztlich auch für einen amerikanischen Markt gemacht.

    „Annihilation“ hab ich bedauerlicherweise nur auf einem kleinen Bildschirm gesehen.

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