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Chick Corea: Piano Improvisations, Vol. 1


Nun ist es nicht so, dass es vor 1970 keine Solopianoalben gab, aber sie waren ein wenig aus der Mode gekommen, und Chick Corea empfand es durchaus abenteuerlich, sich in Oslo an einen Flügel zu setzen und Soli zu spielen: fein, dass die erste seiner beiden Alben „Piano Improvisations, Vol. 1“ (rate mal, wie die zweite heisst, die im gleichen Zeitraum entstand!) am 18. April in der ECM-Reihe „Luminessence“ erschienen ist. Die ersten drei von Manfred E. produzierten Solopianoalben wurden Klassiker, Meilensteine, und, was das Wichtigste ist, ich höre sie immer noch leidenschaftlich gerne. Keith Jarretts „Facing You“, Paul Bleys „Open, to love“, und eben, das erste, Chicks Improvisationen. 

Es dauerte dann etwas, bis zwei andere Abenteurer sich trauten, diesen fantastischen Werken eigene Sololpianowerke, produced by Manfred Eicher, folgen zu lassen, und es kamen dabei zwei beeindruckende Arbeiten heraus, von Richard Beirach und Steve Kuhn. Mit Keith Jarretts derzeit wieder vielbesprochenem „Köln Concert“ war der Solopianovortrag spätestens in einer ganzen Generation angekommen. 

Die Abenteuer gingen weiter. Und sie passieren auch in der Rückkehr, beim Wiederhören diese alten Scheiben – forget nostalgia! Wie sagte Paul Bley zu „Open, to love“: „Eines der Dinge, die ich an der Elektronik mochte, war die Möglichkeit, lange Nachklänge zu erzeugen. Und nachdem ich diese elektronische Periode beendet hatte, in der Sustain wirklich Sustain war, verlangte ich, als ich zur akustischen Musik zurückkehrte, dass das Klavier selbst das duplizieren sollte, was ich elektronisch erreichen konnte.“ Was so nüchtern klingt, ist einfach eine andere Art von Ekstase. 

Als ich Weihnachten, im Jahr 1 nach dem Ende der Beatles, das Gatefold-Cover von „Blue“ aufklappte, waren dort alle lyrics zu lesen. 

Und anders als später im Leben, als 30 Jahre Radio und Klanghorizonte das eher selten erlaubten, gab es Langspielplatten, die über Wochen den Plattenspieler blockierten. Mir fällt aus der Zeit nach den Kinks und den Beatles Chick Coreas „Return To Forever“ ein. Aber auch die erste aller Solopianoalben von ECM,  Chicks „Piano Improvisations, Vol. 1“.

Im nachhinein ins Visier genommen (aber das Nachhinein ist nicht von Bedeutung), befördert die überragende Aufnahmequalität der Studioproduktion von „Blue“ oder den „Piano Imprivisations, Vol. 1“ das Empfinden, ohne Wenn und Aber einen einzigen Raum zu teilen…. die Stimme, der Zuhörer, die Gitarre, das Piano, das Kerzenlicht, die geschlossenen Augen – und sowieso der Wind aus Afrika….  ähnlich bei der über Seite 2 der Improvisationen schwebende Frage „Where Are You Now?“ 

„The wind is in from Africa, last night I couldn‘t sleep.

Sowas von egal, ob es eine Chromdioxydkassette ist, „dead quiet“ Vinyl, dezent verrauschte Mittelwelle: im Innersten berührt zu werden, ist keine Frage der ultimativen Version. Es ist wie bei der Einnahme psychedelischer Substanzen oder bei luziden Träumen: Set und Setting müssen stimmen: kein Zauber ohne die Öffnung der Empfangsorgane, all die kleinen Rituale, sich einzustimmen.

In den nicht mehr so jungen wilden Jahren, hat es das eine und andere Album dann doch geschafft, nächtlicher wie täglicher Begleiter zu sein, round and round and round, 2019 zum Beispiel, Steve Tibbetts, „Life Of“. Manche erleben dieses Album des Mannes aus Minneapolis so, dass sich die einzelnen Stücke doch sehr ähneln, bis, ja, bis die Wahrnehmung in eine ganz andere Richtung kippt, und aus der ersten Enttäuschung wird oft genug erstmal eine Verblüffung, und dann ein konstanter „state of wonder“. 

Singulärer insulärer Traumstoff. 

„What game shall we play today?“ 

Die Zeit läuft.

Time runs fast. 

Time passes slowly.

M.E.