Lose-Fäden-Notizen um mehrere Leerstellen

Als ich vor ein paar Tagen überlegte, ob ich den Namen des diesjährigen Nobelpreisträgers für Literatur, László Krasznahorkai, schon einmal gehört hatte, denn gelesen hatte ich noch nichts von ihm, fand ich die Verbindung über einen seiner Buchtitel: Sátántangó. Zwar habe ich den Roman nicht gelesen, aber es gibt eine mehrere Stunden dauernde Verfilmung von Béla Tarr, wobei ich zwar vor Jahren staunend einige Filme von Béla Tarr gesehen habe, aber in Satanstango, sein Hauptwerk, habe ich nur die ersten Minuten hineingeschaut und wollte den Film ein andermal ganz sehen. Tatsächlich wurde ich in einem Ordner fündig: In dem wunderbaren Portrait Béla Tarrs in der Zeitschrift film-dienst (Ausgabe 23/2009), „Der nackte Mensch. Filmen am Rande des Nichts“ von Hans-Joachim Schlegel, wird László Krasznahorkai als jemand erwähnt, der für Béla Tarrs Entwicklung so wichtig war und der in der Natur „einen Bruder des zur Einsamkeit im Nichts verurteilten Menschen“ entdeckte. Eine zentrale Verbindung der beiden sehe ich nun, da ich den Anfang einer Erzählung aus dem Band „Seiobo auf Erden“ gelesen habe, die von einem in einem Fluss reglos stehenden Reiher handelt, in der Herausnahme der Geschwindigkeit, also in einer Art von Beschreibung, die die Wahrnehmung verlangsamt und über die Wahrnehmung hinausgeht, so wie die langen Einstellungen in den Filmen von Béla Tarr irgendwann einen Zeitpunkt überschreiten, was dazu führt, dass wir mit eigenen Überlegungen in Kontakt gebracht werden, und zwar auf eine solche Art, dass wir eine innere Verbindung mit dem, was wir gar nicht gesehen haben, aufbauen als eine Erfahrung, die sich mit der Erinnerung an den Film verbinden kann, so wie der endlos scheinende Blick auf die Tür einer Hütte in einer der letzten Szenen von „The Man from London“ (Drehbuch von Béla Tarr und László Krasznahorkai, nach einem Roman von George Simenon). Die Folgen der Geschwindigkeit auf Individuum und Gesellschaft hat Paul Virilio zu seinem Hautthema gemacht. In dem schönen Merve-Büchlein aus dem Jahr 1978 „Fahren, fahren, fahren…“, Lajla hatte es mir vor vielen Jahren empfohlen und kürzlich habe ich es endlich gelesen, heißt es unter anderem, dass die Geschwindigkeit die Identität zugunsten der Konformität herabsetzt. Die hohen Geschwindigkeiten schieben, so Virilio, die Bedeutungen ineinander, bis sie sich schließlich ganz auflösen, wie das Licht die Farben auflöst.

8 Kommentare

  • flowworker

    Das sind zum Ende hin, ein paar schöne Reflexionen, die du ins Spiel bringst, die man auch auf die Langsamkeit der Musik, und aktuell der von Eno und Wolfe beziehen kann.

    Wobei alles Langsame auch etwas Gespenstisches haben kann, selbst in der Begegnung mit dem Eigenen.

    Wie mailte mir doch Leah Kardos, nachdem ich erzählt habe, dass Brian und Beatie just im Serpentine Cafe im Hyde Park sitzen (einem Lieblingsort von mir), und dass ich Beatie auch Leahs Wire review von Liminal geschickt habe:

    Hi Michael, thanks for sharing that with me, I like your ghostly writing about Liminal. And thanks for saying my name, ha!

    Und schön, dass ein Kriminalroman von Georges Simenon bei dir auftaucht! 😉

  • Martina Weber

    Die Filme von Béla Tarr strotzen nur so vor Unheimlichkeit, selbst wenn du am Anfang von „The Man from London“ ungefähr zehn Minuten zuschaust, wie jemand seinen Blick sehr langsam vom Wasser über ein erst noch unklares Objekt zum Schiffsbug bewegt. Film noir meets metaphysics. Es wäre interessant, herauszufinden, inwieweit das Drehbuch die Romanvorlage verändert hat. Es ist nämlich, wie bei den Drehbuchautoren nicht anders zu erwarten, eine Kriminalgeschichte mit sehr ungewöhnlichem Fokus 😉

    Lajla hatte zunächst, so wie du es gern zu sagen pflegst, sinngemäß gesagt, „einfach lesen“, als ich sie fragte, was sie an „Fahren, fahren, fahren…“ fasziniert hat. Sie hat dann einen Gedanken aus dem letzten Essay, Metempsychose des Passagiers, skizziert. Der „Fahrzeug“-Essay aus dem Büchlein dürfte jedoch der wirkungsmächtigste sein. Die Grundgedanken sind immer noch aktuell.

  • ijb

    Ich hatte damals große Schwierigkeiten mit The Man from London, empfand ihn als unerträglich manieriert, habe es seither nicht geschafft, ihn ein zweites Mal zu schauen. Satantango ist mittlerweile nicht nur in den meisten Cineasten- und Filmkritiker-Allzeitlisten, sondern auch bei mir einer der 10 oder 20 besten Filme der Geschichte.
    Béla Tarr meinte damals, der Film dauere so lang, weil das Buch auch so lang sei. Er brauche 7 Stunden, um das Buch zu lesen, also müsse der Film so lang sein.
    (Dass Filmfreunde sich gegen die Länge wehren, finde ich angesichts des Serien-Booms und von sicher längeren Filmen wie bspw. Herr der Ringe mittlerweile ein bisschen seltsam.)

    Wir hatten Béla Tarr regelmäßig an unserer Filmhochschule zu Gast; über Jahre war er alle zwei oder drei Jahre für sein sommerlanges Hauptstudiums-Seminar an der DFFB und gab quasi unlösbare Aufgaben – wie Dostojewski zu verfilmen. In meinem Jahr war das Thema Faust, und so war er im Sommer 2008 Regiementor meiner Faust-Adaption, was mein erster Langspielfilm wurde.

  • flowworker

    Sprechen wir mal Kiarostami, wenn wir von Langsamkeit sprechen, speziell von 24 Frames:

    Was zum Teufel passiert in diesem Film? „24 Frames“. Nichts, könnte man sagen. Und: es handelt sich um ein formales Experiment, das auf der Vorstellung beruht, dass man fünf Minuten lang auf ein Gemälde oder ein Foto starren und sich die Welt darin vorstellen kann.
    Genau das tut Kiarostami in diesen 24 kurzen Stücken, die wie Fotos sind, die sich zufällig bewegen. Das erste Stück ist ein Gemälde von Pieter Bruegel, das durch bestimmte bewegte Elemente – Rauch, Vögel, Hunde – animiert wird. Die anderen Stücke sind Fotografien, viele davon in Schwarz-Weiß, die Natur und Tiere zeigen.
    Oft schneit oder regnet es, und es gibt viele Vögel und Kühe. Bild 15, eines der wenigen, in denen Menschen zu sehen sind, zeigt ein Standbild von Menschen, die von einer Brücke aus auf den Eiffelturm starren, während Fußgänger zwischen ihnen und der Kamera vorbeigehen. Solche Beschreibungen sind nur fragmentierte Hüllen, vieles fehlt. Anmutung. Geräusch. Raumwirkung. (Rauschwirkung.)
    Die meisten Stücke zeichnen sich durch eine sorgfältige natürliche Klanggestaltung aus, einige wenige enthalten Lieder wie Maria Callas‘ Interpretation von „Un bel di vedremo“ und Janet Baker, die Gounods „Ave Maria“ singt. Das komplexeste Stück ist das letzte.
    Während wir Andrew Lloyd Webbers „Love Never Dies“ hören, sehen wir neblige Winterbäume vor einem Fenster, während unten im Vordergrund ein Junge oder ein Mädchen an einem Schreibtisch schläft und ein Laptop einen Kuss in Zeitlupe aus William Wylers Die besten Jahre unseres Lebens (1946) zeigt. In dieses reichhaltigen Arrangement können viele Bedeutungen hinein gelesen werden.
    Wenn man nicht „in the mood“ ist, langweilt einen dieser Film sehr. Wenn man „in the mood“ ist, fesselt einen dieser Film total. Ein Dazwischen gibt es kaum. Der Film selbst eine Trancearbeit. Der ohne traditionelle Tranceinduktion arbeitet. Ob sich also spontan eine Trance einstellt, und wie tief sie ist, hängt von diversen Faktoren ab.
    Wie Brian Enos Ambient Music eben erstmal „funktionelle Musik“ ist. „Music For Airports“. „Neroli – Thinking Music 4“. Ob, über die Funktion hinaus, Tiefe entsteht, ein besonderes Hörerlebnis, entscheiden die innere Verfassung, der Ort, das Licht, etc. Es kann so vieles passieren, wenn nichts passiert. „Lux“.

    (Alter Manatext / M.E,)

  • Aus dem Guardian

    The latest book translated to English by the new Nobel laureate in literature is one sentence long. I am not kidding: there is one full stop to be found at the end of 400-odd pages of László Krasznahorkai’s Herscht 07769, set in the 2010s and following a failed baker who, after attending quantum physics classes, believes the end of the world is nigh, and writes letters to Angela Merkel, hoping the physics-trained chancellor will do something about it.

    The novel’s epigraph – “Hope is a mistake” – is a heads up on its bleakness, a characteristic of much of Krasznahorkai’s work (though there’s humour here, too). In an interview after finding out he’d won, he said his biggest inspiration is “the bitterness”. We’re in “very, very dark times and we need much more power in us to survive this time than before”.

  • Martina Weber

    Yep, das Ding vom Ein-Satz-Roman hatte ich irgendwo in den Deutschlandfunksendungen gehört. Gibt es nicht auch einen Film, der nur aus einer Einstellung besteht? Ich meine, ich hätte das mal irgendwo aufgeschnappt. Wenn auch eine Kamerafahrt dabei war, sogar eine aufwändige.

    Beeindruckend, dass du, Ingo, Béla Tarr auf dem Filmbereich persönlich kennengelernt hast.
    Ja, und ich hatte daran gedacht, dass du „Satantango“ auf deiner Liste von zehn möglichen Lieblingsfilmen hattest.
    Als ich damals nur reingeschaut hatte, gab es den Film in voller Länge und in sehr guter Qualität auf youtube.
    Ich denke aber doch, dass es einen Unterschied gibt zwischen einem extremen Langfilm wie „Satantango“ und einer Serie. An Béla Tarr scheiden sich wohl auch die Geister. Ich kenne Leute, die bei „The Man from London“ nach fünf Minuten ausgestiegen sind, weil sie die Drosselung der Geschwindigkeit nicht ertragen haben. Ich finde die Atmosphäre und die Bilder, vor allem am Hafen und in der Stadt, einfach bezaubernd. Natürlich auch bedrückend. Ja, der Plot ist etwas manieriert. Auch Tilda Swinton mit ihrer Rolle der überdrehten Ehefrau, na ja, sie hatte schon coolere Rollen. „The Man from London“ ist wegen seines Schauplatzes nicht so 100 prozentig ein typischer Béla Tarr-Film. Typisch für Béla Tarr, jedenfalls für die Filme, die ich gesehen habe, ist das Portrait von Ungarn vor der Wende. Das ist auch etwas, was man erstmal ertragen können muss. Allein schon die Gesichter, die immer die eigene Lebensgeschichte erzählen. Für Michael wäre es nichts, da bin ich mir ziemlich sicher.

  • ijb

    Klar, es gibt natürlich einen Unterschied zwischen einem Film wie Satantango (und anderen sehr langen Filmen, etwa von Lav Diaz oder Jaques Rivette). Ich werfe meinen Kommentar vor allem deshalb in den Raum, weil das erste, was die (aller)meisten Leute (ablehnend) sagen, wenn sie von der Länge erfahren, dass das „viel zu lang“ für sie sei – schon bevor sie überhaupt was Konkretes über den Film wissen. Und es gibt ja auch einige Menschen, die gehen in sechs- oder achtstündige Opern oder Theaterinszenierungen.

    Besser als The Man from London fand ich dann Bélas letzten Film, Das Turiner Pferd; der war dann noch mal ne ganze Ecke rigoroser, radikaler – und mir kam er nicht mehr so manieriert vor; allerdings werden den kaum noch Leute anschauen, die seine vorigen Filme schon nicht mehr ausgehalten haben…

    Es gibt einige Filme, die in einer Einstellung gedreht wurden, manche tatsächlich in einer (Victoria, Russian Ark, Utøya 22. JuliTimecode sogar in vier parallel zu sehenden 90-minütigen Einstellungen, und einen „Tatort“ gibt’s auch), andere tun nur so, haben aber zahlreiche „unsichtbare“ Schnitte (Birdman oder 1917).

  • Martina Weber

    Außer „The Man from London“ habe ich hier: „Werckmeister Harmonies“ (das mit dem Wal), „Damnation“ (beide sehr ungarisch) und „The Turin Horse“. Letzteres fand ich auch sehr stark und vom Plot her auf gewisse Weise „natürlich“. Alles auch sehr schwer.

    Jetzt verstehe ich, wie du deinen Einwand meinst. Ich würde eher einen fünfstündigen Film sehen als in eine dreistündige Oper zu gehen. Die Prioritäten sind eben individuell.

    „Birdman“, yep. Ich meine, in dem Zusammenhang hatten wir das Thema des Filmes mit einer Einstellung schon.

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert