Der Hüsch

Am 6. Mai hätte Hanns Dieter Hüsch seinen 100. Geburtstag feiern können. Möglicherweise hat er das ja auch, wer weiß, wo. Als Christenmensch wird er da seine eigenen Vorstellungen gehabt haben, und wie er mehrfach erwähnte, hat er den lieben Gott ja gelegentlich getroffen — mit dem Fahrrad in Dinslaken. Klar, wie sonst.

Ein „Kalenderblatt“ im Deutschlandfunk machte mich auf seinen 100. aufmerksam. Der wäre mir sonst entgangen — seltsam genug, denn dieser Künstler, der mit „Kabarettist“ nur sehr unvollständig beschrieben ist, hat mich durchs Leben begleitet wie sonst wohl nur Kurt Tucholsky, Kraftwerk, Jefferson Airplane und Creedence Clearwater Revival. 

Etliche Jazzmusiker der 1960er und 1970er waren politisch denkende Personen und hatten keine Probleme damit, ihre Meinung klar zu äußern. Allerdings blieb diese dann meist eher im kleinen Kreis. Kombinationen aus Kabarett und Jazz waren eine seltene Angelegenheit. Einer machte aber den Schritt, mit Jazzmusikern zu arbeiten, und das war der Kabarettist, Autor, Liedermacher, Radiomoderator und der die Väter der Klamotte zum Leben erweckende Hanns Dieter Hüsch. Er spielte die LP Typisch Hüsch ein; meine erste Platte von ihm.

Mit Jazzern aus der ersten Reihe – Peter Baumeister, Gerd Dudek, Pierre Favre, George Gruntz, Volker Kriegel, Günter Lenz und Eberhard Weber – war dies eine Mischung aus Liedern, gesprochenem Wort, freien musikalischen Kontrapunkten, Gedichten und improvisierter Musik. Philosophische Fragen wechselten sich ab mit Themen wie Vietnam, Kriegsdienstverweigerung, Folter, Fragen an die Väter, das Leben als Minderheit, Alleswisser, die Bedeutung von Solidarität, Kirche, selbst Umweltverschmutzung war bereits ein Thema. Typisch Hüsch ist noch heute ein reinigender Regen für den Kopf.

Die Platte bescherte Hüsch allerdings eine Menge Ärger, und er erlebte das nicht zum ersten Mal – das war in der Tat typisch für ihn. Hüsch war nie jemand, der mit der Masse lief. Viele seiner Kollegen und das (weitgehend studentische) Publikum sahen das Album als „nicht links genug“ an, sie warfen ihm vor, er kratze an den ideologischen Grundfesten der Studentenbewegung, und überhaupt hätte er ein ganz anderes Album machen müssen. 

All dies war nichts Neues für Hüsch. Er war seit 1946 Kabarettist, sowohl solo als auch mit einer Gruppe namens „Arche Nova“, und er verfügte über ausreichend Routine, um mit Publikumsreaktionen aller Art umgehen zu können. Im Jahr 1968 auf der Burg Waldeck kam es allerdings deutlich heftiger: Dort wurde er nach nur zwei Songs von der Bühne gebuht. Das Publikum wollte beinharte Agitation, nicht Humor, Ironie und gelegentliche Selbstzweifel: „Ich musste ja dann mein ‚Konzert‘ abbrechen, mich auf ein Stühlchen setzen und Rede und Antwort stehen, und jeder kleine Politkacker wollte von mir wissen, warum ich immer so unterhaltend sei und mein poetisches Vermögen nicht mehr in den Dienst von Fortschritt und Aufklärung stelle, und ich sei ja doch mehr ein spätbürgerlicher Formalist und kein revolutionärer Volkstribun.“ Franz-Josef Degenhardts Lied „Zwischentöne sind bloß Krampf im Klassenkampf“ kam bei diesem Publikum besser an, aber das konnte nie Hüschs Motto sein.

Nach Typisch Hüsch verließ Hüsch das Pläne-Label, seine Familie und Deutschland – einesteils wegen der Angriffe auf ihn, die sich in der Folge auch in anderen Städten fortgesetzt hatten, zum anderen aber auch, weil er sich in die Schweizer Schauspielerin Silvia Jost verliebt hatte. Ein daraus resultierendes gemeinsames Programm der beiden hieß Faux Pas de Deux (1974), aus dem Hüschs traumhaft-verträumtes „Abendlied“ stammt. Er griff dieses Stück auch in späteren Programmen immer wieder einmal auf.

In St. Gallen schrieb Hüsch sein wohl komplexestes, surrealstes, verstörendstes, bitterstes und gleichzeitig poetischstes Bühnenprogramm, Enthauptungen, das nach seiner Uraufführung in Basel im Jahr 1971 als Doppel-LP auf dem Intercord-Label erschien. 

Der Titel kann auf die Art und Weise bezogen werden, wie sich Hüsch in Deutschland behandelt fühlte, ebenso aber auch als das abstrakte Gegenteil von Behauptungen – vielleicht steckt ein bisschen Zen darin.

Drei Jahre später kehrte Hüsch nach Mainz zu seiner Frau und seiner Tochter zurück, die ihn wieder aufnahmen. Dass sein Verhalten den beiden gegenüber kein Heldenstück gewesen war, hat er in seiner Autobiografie („Du kommst auch drin vor“, erschienen 1990) und so manchem Text verarbeitet.

Für sein erstes Bühnenprogramm nach der Rückkehr spielte ihm die Hamburger Jazzrockband Altona einige Backings ein. Sie sind auf dem resultierenden Doppelalbum zu hören (Nachtvorstellung, 1975, in nicht sehr geglücktem Kunstkopf-Stereo im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg mitgeschnitten). 

Mir ist die Platte schon deshalb nicht egal, weil ich selbst unter den Klatschern im Publikum saß; das erste Mal, dass ich Hüsch live erlebte. Es folgten etliche weitere Male, bis zu seinem letzten Bühnenprogramm „Wir sehen uns wieder“, 1997 in der Hamburger Musikhalle. 

Hüsch spielte für den Rest seines Lebens hauptsächlich Soloprogramme, oft an bis zu 250 Abenden im Jahr. Wenn es überhaupt ein Programm gibt, das er als „sein wichtigstes“ ansehen würde, dann dürfte es Das neue Programm von 1981 gewesen sein — „für Frau und Tochter, Freunde und Feinde“, wie der Untertitel lautete. 

Unter Stehlampen sitzen wir
Und warten auf das Kopfnicken
Der Katastrophe.

— die Schlusszeilen aus dem Eingangslied.

Obwohl er ein durchaus passabler Pianist war, wurde eine kleine Philicorda-Orgel zu seinem Markenzeichen („Mein Bühnenbild“, wie er zu sagen pflegte). Dieses Instrument konnte er nicht nur für Klangakzente und liegende Akkorde einsetzen, es diente ihm auch als Tisch für seine Manuskriptblätter, von denen er seine Texte locker abzulesen pflegte. Am Ende besaß er fünf dieser Orgeln, die strategisch über Deutschland verteilt waren.

Hüschs Platteneinspielungen gingen von Wortplatten ohne Publikum über Livemitschnitte bis hin zu einer von Kai Rautenberg arrangierten Bigband-Platte (Abendlieder; 1976), die es (wie die meisten seiner frühen Platten) leider nie auf eine CD geschafft hat.

Dabei blieb er dem Jazz immer treu, auch die Philicorda-Klangakzente und -Akkorde sind meist alterierte Jazzakkorde. Hüsch konnte in seinen Bühnenprogrammen witzig, verrückt, versponnen, manchmal albern, aber auch philosophisch, satirisch und politisch sein, wobei Politiker mit Namensnennung eine seltene Erscheinung waren („Mein Kabarett ist mir zu schade dafür“). Hüsch hatte einen messerscharfen Blick für die Kleinigkeiten des Alltags, aber nie wurde Brüllkomik daraus. Er besaß Charisma; er erschien auf der Bühne und hatte den Saal. Er konnte die Zuschauer mit erlesenem Quatsch zum Lachen bringen, sie mit einer einzigen Wendung, mit einer einzigen Zeile zu Tränen rühren und sie im nächsten Augenblick wieder auffangen. Der Spiegel schrieb über ihn: „Hüschs Genius, sein Ansehen und Erfolg beim Publikum bestand darin, dass er von Beginn an seinen Texten eine besondere, auf Gefühl bezogene Rhythmik und eine intensive, teils spontane Interaktion gab, also all die Elemente, welche man auch in der Jazzmusik spürt. Er grenzte sich und sein Werk damit schon früh von anderen Kabarettisten ab und konnte diesen eigenen Stil in der Folge weiterentwickeln.“

Musik spielte in und für Hüschs Programmen immer eine wichtige Rolle. Seine Kollegin Magdalena Thora (heute unter dem Namen Leni Stern als Jazzgitarristin unterwegs) aus der TV-Serie „Goldener Sonntag“ (wenn die lief, durfte mich niemand anrufen) gab ihm eines schönen Tages den Tipp, sich einmal die Musik Steve Reichs anzuhören. Die faszinierte ihn dann derartig, dass er Reichs Musikstrukturen buchstäblich zu komplexen Minimal-Texten verarbeitete, die eine ähnliche Wirkung wie die Musik hatten; besonders deutlich etwa in „Hagenbuch und seine Freunde“ von 1981. Der erste dieser „Hagenbuch“-Texte war entstanden, während im Hintergrund Steve Reichs „Six Pianos“ lief, und irgendwie übertrug sich der Aufbau dieses Stücks auf den Text. Für die ohne Publikum im Studio eingespielte LP Hagenbuch hat jetzt zugegeben (1978) gab er Konstantin Wecker den Auftrag, sieben Reich nachempfundene Klaviermusiken zu schreiben, die als Brücke zwischen den Geschichten dienen.

Zwischen 1979 und 1983 ging Hüsch mit „Hagenbuch“ und der Lars Reichow Bigband auch auf Tournee. „Insoweit Hüsch Kabarettist ist, mag es nicht überraschen, dass er auch mit der Musik operiert, ohne die Kabarett ja nicht denkbar ist. … Aber was noch interessanter ist: Er geht über die bekannten Formen hinaus, erweitert sie, sprengt sie bis in die Bereiche des Experiments mit Klängen der Moderne und Techniken der Collage“, schreibt der Konzertbeobachter Gerd Lisken über diese Auftritte. 

In den heutigen Kabarettsendungen im Fernsehen wird man Beiträge wie die von Hüsch nicht mehr finden. In den Siebzigern gab es eine Reihe wie die „ZDF-Matinee“, in der am Sonntagvormittag manchmal recht bemerkenswerte Dinge gesendet wurden, die heute unvorstellbar wären, etwa einen vollen Auftritt von John McLaughlins Mahavishnu Orchestra. 1978 sendete das ZDF in dieser Reihe live aus der Mainzer Universität Hüschs sehr abstrakte Collage Und das Herz schlägt wie ein blinder Passagier. Ich sah es zu Hause. Was wir Zuschauer natürlich nicht wissen konnten: Während der Pause erhielt die Uni einen Anruf aus dem Krankenhaus, dass Hüschs Frau Marianne verstorben war. Alle hinter der Bühne waren zunächst ratlos, ob man ihm das mitteilen sollte. Man kam schließlich überein, dass man das nicht verheimlichen könne, er würde es sonst ohnehin merken. Hüsch, angesichts der Live-Situation, zog den zweiten Teil des Programms durch. — Freunde, die Welt hat kein Dach über dem Kopf (auch das ein Satz aus einem seiner Programme).

Den Lungenkrebs hatte Hüsch gerade überstanden, da erwischte ihn im November 2001 ein Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Hanns Dieter Hüsch, „der Mann, der den Jazz in Worte fasste“, verstarb im Jahr 2005.

Beim Herumgooglen nach der obenerwähnten „Kalenderblatt“-Sendung übrigens stieß ich auf ein Buch:

Herausgegeben von Malte Leyhausen versammelt der Band rund fünfzig Erinnerungen von prominenten und weniger prominenten Mitmenschen an Hanns Dieter Hüsch, unter anderem von Lioba Albus, Jürgen Becker, Henryk M. Broder, Matthias Brodowy, Katja Ebstein, Okko Herlyn, Franz Hohler, Margot Käßmann, Jürgen Kessler, Renate Künast, Manfred Lütz, Jochen Malmsheimer, Harald Martenstein, Manfred Maurenbrecher, Arnulf Rating, Lars Reichow, Mathias Richling, Nikolaus Schneider, Georg Schwikart, Kai Magnus Sting und vielen anderen. Viele dieser Texte sind lesenswert, auch wenn mir das Buch im letzten Viertel ein wenig zu evangelisch wird. Aber auch das war Hanns Dieter Hüsch. Und wenn der Jubilar den lieben Gott schon in Dinslaken getroffen hat, dann kann man das wohl hinnehmen.

Malte Leyhausen (Hg.):
Hanns Dieter Hüsch zum 100. Geburtstag
Erinnerungen von Freunden und Bewunderern
Mit Illustrationen von Jürgen Pankarz
Hamburg 2025, ISBN 978-3-7693-2783-0
274 Seiten 

Hüschs Platz ist verwaist und wird es wohl bleiben. Und mein Lieblingszitat von ihm ist und bleibt:

Wenn man bedenkt, dass das Ganze nichts auf sich hat.

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2 Kommentare

  • flowworker

    Das ist ein berührender Rückblick. ich habe ihn damals imme gerne im Fernsehen gesehen, leider nie live. Und auch im WDR war er oft. Ich mochte seine Zwischentöne, und es wundert mich nicht, an diesem Lebenslauf einmal wieder zu sehen, wie borniert die LInken damals in Teilen waren. MSBh, KPD, Trotzkisten, da bin icn ganz froh über meine kurze Zeit bei der SPD mit dem Godesberger Programm in der Tasche.

    Mit seiner Orgelei konnte ich mich nie so anfreunden. Aber das war mir egal, weil die Texte oft so verdammt klug waren. Unvergesslich sein Lied vom „runden Tisch“, bei dem es ihm darum ging, alle unterschiedlichen Parteien zum Gespräch zusammenkommen zu lassen, ein No Go für viele damals. heute wäre solch ein runder Tisch mit der AfD undenkbar. Dieser Parte ist tatsächlich ein Grundübel.

    Aber Hüsch, ja. Dein Text macht Lust, Typisch Hüsch zu hören. Kenne ich nicht wirklich. (Michael)

    Ich habe mal ENTHAUPTUNGEN (1) von 1970 HIER verlinkt.

  • Lajla

    Danke Jan, immer eine ausführliche Erinnerung wert. Als ich mal in Moers an seinem Grab stand und ein paar Freunde von ihm Texte vorlasen, war ich nicht mutig genug sie um die Texte zu bitten. Dieses Verhalten hätte ihm garnicht gefallen.

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