„Und man hört sie doch. 20 Jahre Literaturwerkstatt in Darmstadt“. Eine Anthologie und was sie bedeutet.

Das Buch ist da, schon einige Wochen ist es her, dass ich drei Pakete mit meinen bestellten Exemplaren bei der Verlegerin, Geraldine Gutiérrez-Wienken, in Heidelberg abgeholt habe. Jedes Buch wird von Hand hergestellt. Maximal zwölf Exemplare schafft sie an einem Tag. Ihre Garage im Hinterhof ist eine Werkstatt. Eine Neonröhre an der Wand beleuchtet die Schneidemaschine. In der Mitte steht dann noch ein anderer, größerer Tisch, für die Falz- und Klebearbeiten. An den Seiten offene Regale mit Kartons: Es wird edles Papier verwendet; nicht zu dünn, es ist griffig. Handarbeit, das bedeutet auch, dass die Seitenränder nicht immer gleich breit sind. Jedes Buch erhält einen Stempel. Mein Exemplar ist ein Probestück vom Dezember, es hat die Nr. 002.
Hinter dieser Anthologie, deren Herausgeberin ich bin, steckt ein Lebensabschnitt. Eigentlich sind es zwei Abschnitte: die Zeit der Seminarleitung, die weitergeht, und die Zeit der Arbeit an dem Buch selbst, die sich über eineinhalb Jahre erstreckte. Es begann am 8. Februar 2005, einem Montag, um 18 Uhr im Literaturhaus in Darmstadt. Alle, die sich dafür interessierten, auch weiterhin an ihren literarischen Texten in einer Gruppe im Diskurs zu arbeiten, saßen an den Tischen im vierten Stock, schrieben ihre Erreichbarkeitsdaten auf Blätter, die jetzt immer noch in einem meiner Ordner zur Literaturwerkstatt eingeheftet sind. Ein Zeitsprung um 20 Jahre: Ungefähr 250 vierstündige Seminare später liegt sie nun vor, die Anthologie, die in dieser Form nur eine Auswahl darstellen kann, Einblicke in die Arbeit von Autorinnen und Autoren, von denen viele im Literaturbetrieb bekannt sind: durch Buch- und Zeitschriftenpublikationen, Preise und Stipendien, Lesungen, Radio- und Fernsehauftritte, Leitungen von Schreibwerkstätten und Herausgeberschaften von Literaturzeitschriften. Ein Buch von vielleicht zweihundert oder gar dreihundert Seiten, mit vollständig abgedruckten Erzählungen, hätte einen anderen Charakter ergeben, den zu präsentieren mich nicht gereizt hat, auch wenn ich deutlich mehr als 27 Autorinnen und Autoren hätte ihren Raum geben können. Ich schätze das Fragmentarische und habe bei der Auswahl der Auszüge aus längeren Texten darauf geachtet, dass sie auch außerhalb ihres Zusammenhangs etwas transportieren. Die Anthologie enthält 15 Gedichte, zwei Kürzestgeschichten, eine Filmszene, einen kurzen Prosatext und 14 Auszüge aus Erzählungen und Romanen. Außerdem selbstverständlich (leider sehr kurze und unvollständige) Kurzbiographien. Um das Ausmaß der Auswahl zu verdeutlichen: In jedem Seminar haben durchschnittlich zwei Personen Texte im Umfang von je 12 Seiten vorgestellt, über die wir dann diskutiert haben, das sind 24 Seiten pro Seminar. Multipliziere ich diese 24 Seiten mit der Zahl der Seminare (250), komme ich auf 6000 Seiten besprochener Literatur.
Es ist nicht nur ein Seminar, an dem im Lauf der Zeit mehr als 100 Autorinnen und Autoren teilgenommen haben, viele davon länger als zehn Jahre; es ist eine Gemeinschaft geworden. Freundschaften sind entstanden, Netzwerke, die weit über die Teilnahme am Seminar hinausgehen. Die Begegnung in dem, was zu einem zentralen Bestand der eigenen Persönlichkeit gehört, verbindet. Bei den Gesprächen über die Texte vergessen wir die Zeit. Immer wieder diskutierten wir, vor allem in meiner zweiten Seminargruppe, der Dienstagsgruppe, statt planmäßig bis 22 Uhr eine halbe Stunde länger und manches Mal wurde es sogar noch später. Dann gingen wir ein paar hundert Meter die Kasinostraße runter, zum „Nazar“, einem türkischen Restaurant, das zwar nicht 24 Stunden offen hatte, aber immerhin 23. Die Atmosphäre war entspannt; wahrscheinlich lag es an den Öffnungszeiten, die verändern das Zeitgefühl. Wir saßen auf Hochsitzen, die Rucksäcke und Taschen zu unseren Füßen, bestellten warme Gerichte, ein „Nachtessen“ im wörtlichen Sinn, und wir ließen uns kurz vor unserem Aufbruch noch kleine Tassen schwarzen türkischen Tees als Geschenk des Hauses servieren, was sich nach Mitternacht wie eine Droge anfühlte, fast ein bisschen illegal, ein Aufputschmittel, das wir für den Rückweg in die verschiedenen Städte, aus denen wir anreisten, manche mehrere hunderte Kilometer weit, brauchten, und das uns länger als erwünscht wachhielt. Ich erinnere mich an einen Teilnehmer, der aus einer kleinen Stadt im östlichen Bayern anreiste. Er fuhr gegen Mittag mit einem Flixbus los, um gegen 18 Uhr in Darmstadt zu sein, nach dem Seminar und dem gemeinsamen Essengehen fuhr er mit mir im Auto mit nach Frankfurt, ich setzte ihn am Hauptbahnhof ab, von da aus nahm er einen Nachtbus, mit dem er letztlich wieder gegen Mittag in seinem Heimatort ankam.
Über die Reihenfolge der Texte im Buch habe ich im vergangenen Sommer zwei Tage lang nachgedacht und dabei Kriterien berücksichtigt, die uns Michael all die Jahre und vor allem damals auf unserem alten Blog, manafonistas, immer wieder bei der Anordnung der Musikstücke für seine Radiosendungen vermittelt hat. Damals habe ich darüber hier einen Text geschrieben. Leider war es im Prozess des Layouts aus verschiedenen Gründen nicht möglich, an allen Stellen die von mir gewählte Reihenfolge der Texte einzuhalten. Deshalb ist die Anthologie für mich in dieser Hinsicht auch nicht perfekt. Hier ist meine Anordnung der Texte: Maria Knissel, Özlem Özgül Dündar, Ralf Schwob, Alexander Roth, Jonas Mieth, Elnas Nazem, Julia Mantel, Lea Matusiak, Sandra Ade, Ute Dietl, Armin Steigenberger, Andreas Pargger, Ralf Wolf, Eric Giebel, Brigitte Morgenroth, Kameliya Taneva, Maria Anne Anders, Sven Buchsteiner, Ulrike Sabine Maier, Katharina Kramer, David Emling, Karin Brand, Stefan Förster, Angela Regius, Iris Antonia Kogler, Barbara Zeizinger und Elke Barker.
In meinem Vorwort habe ich von der Geschichte des Seminars erzählt und von ein paar Gedanken zur Bedeutung des Titels. „Und man hört sie doch“ ist ein Zitat aus der Erzählung „Wälder in Brooklyn“ von Armin Steigenberger, die wir im Jahr 2012 im Seminar besprochen haben. Hier ist die Passage, aus der der Titel entnommen ist:
„Die kleinen Fliegen sind überall. Sie sitzen auf der Gardine, auf dem Lampenschirm, auf der Zeitung. Sie krabbeln neben den Worten über das Papier. Sie lassen sich, auf der Suche nach Licht, auf meinem Bildschirm nieder. Man hört ihre kleinen Füße nicht. Und man hört sie doch. Ich kann sie hören, aber es ist nicht das Geschwirr ihrer Flügel, das ich höre. Es ist mehr spirituell, so, wie man das Gras wachsen hört. Oder die Bäume im Wald.“
Da die Anthologie beim Verlag, bei hochroth Heidelberg, hergestellt wird, ist es am besten, sie auch dort zu bestellen. Den Link findet man rasch auf der Verlagsseite hochroth.de, und hier ist der direkte Link zum Buch.
Die Premierenlesung findet statt am Samstag, den 26. April 2025, um 18 Uhr im Darmstädter Logenhaus Johannes der Evangelist zur Eintracht, Sandstraße 10, 64283 Darmstadt. Musikalischer Rahmen: Claus Boesser-Ferrari (Gitarre).
Alle Autorinnen und Autoren haben zugesagt, dabei zu sein, auch ohne Reisekostenerstattung; die weitesten Anreisewege sind die aus Hamburg, Leipzig, München und noch weiter südlich davon und – aus Irland. Dass solche Strecken zurückgelegt werden, um wenige Minuten einen eigenen Text vorzutragen und um die anderen aus der Literaturwerkstatt in Darmstadt wiederzusehen: Das ist der Spirit!