Through the 90s und Der Walkman-Effekt
Es ist schon eine Weile her, dass Ingo aufforderte, 25 unserer Lieblingsalben den 90ern, die wir immer noch mögen, aufzulisten. Dabei sollten die Alben auch aus den 90er Jahren stammen. Innerhalb weniger Stunden gab es mehrere Listen und die Zahl der Kommentare ging Richtung Rekordhöhe. Im Verlauf dieser comments schrieb Ingo, er würde sich für meine Liste interessieren, und deshalb habe ich mich damit beschäftigt, obwohl solche Listen nicht mein Ding sind. Ich brauchte Zeit, weil ich in Ingos Vorgaben nicht denke. Was ich in den 90ern gehört habe und was damals eine Bedeutung für mich hatte und mir heute noch gefallen würde, stammte nicht unbedingt aus den 90ern. Zum Beispiel „Songs for the ten Voices for the two Prophets“ von Terry Riley, aber auch alte Pink Floyd Platten und ein paar Glanzstücke von Genesis. Umgekehrt habe ich einiges aus meiner Liste erst später entdeckt. So hatte mich Ingo vor ein paar Jahren in beeindruckender Einschätzung meines Musikgeschmacks auf „Plastikman: Consumed“ (1998) aufmerksam gemacht, ein Album, das seither auf dem Stapel meiner ständig gehörten CDs liegt. Das Jahrzehnt der 90er brachte eine starke Veränderung in meinem Musikhören, für mich einen Quantensprung. Anfangs habe ich noch mit der Geige in Orchestern gespielt (ich erinnere mich an Brahms und an L’Arlésienne von Bizet); im Februar 1995 entdeckte ich Michaels Sendung „Radio Unfrisiert“ im Hessischen Rundfunk, verlor nach wenigen Sendungen diese Spur, und am Ende des Jahrzehnts war ich süchtig auf seine Klanghorizonte, die meinen Musikgeschmack mehr als den jeden anderen Flowworkers geprägt haben. Hier also meine Liste, die zu keiner verwertbaren Antwort im Rahmen von Ingos Studie beitragen kann. (Und die Reihenfolge hat auch keine Bedeutung.)
01) The The: Slow Emotion Replay (Der Titeltrack erinnert an die Titelmelodie der Serie „Northern Exposure“ und ist eventuell sogar ganz identisch. Dieser Track gefällt mir aber nicht, aber der Vorspann von „Northern Exposure“ ist maximal cool. Was ich immer noch gern höre, sind die Scenes from Arctic Twilight. Das ist eine ruhige elektronische Musik ohne Gesang.
02) US 3 Hand on the Torch (das ist die Beschriftung. Die Musik erinnert mich an die Stimmung in der Dachgeschloss-WG eines Freundes, dafür genügen schon die ersten Takte.)
03) R.E.M.: up
04) Sonic Youth: Washing Machine
05) Radiohead: Kid A
06) Radiohead: OK COMPUTER
07) Labradford: A Stable Reference
08) Labradford: Labradford
09) Labradford: Prazision LP
10) Labradford: Mi media naranja
11) Labradford: El luxo so
12) Plastikman: Consumed
13) Bark Psychosis: A Street Scene
14) Bark Psychosis: Independency
15) Boards of Canada: Skam
16) Boards of Canada: Music has the right to children
17) Boards of Canada: Twoism
18) Nils Petter Molvaer: Khmer
19) Eivind Aarset: électronique noire
20) Underworld: Dirty Epic Cowgirl
21) Flying Saucer Attack: Further
22) Jon Hassell: City: Works of Fiction
23) Bugge Wesseltoft: It’s snowing on my piano
24) The American Analog Set: the golden band
25) The American Analog Set: Through the 90s: singles and unreleased
Beim Aufräumen meiner Sammlung von Audiokassetten habe ich einige Teile gefunden, als Originale aus den 90ern, die mich nie begeistern konnten:
Sonic Youth: Daydream Nation
Keith Jarrett/Gary Peacock/Jack DeJohnette: Tribute, ECM 1990, zwei Kassetten
Mit der Wiederentdeckung der Audiokassette geht auch ein angepasstes Angebot an Abspielgeräten einher. Abgesehen davon, dass kleine Kompaktanlagen auf dem Billigsektor wieder Kassettendecks haben und das Angebot an Walkmen mit und ohne Digitalisierungsfunktion und mit zeitgemäßer Stromversorgung beachtlich geworden ist, bietet FiiO ein upper class upgrade-Modell des Walkman an, mit Lithiumbatterie, möglichem Strombetrieb durch die Powerbank und dem Versprechen eines 100-prozentigem Analoghörgenusses.
Mein liebster Theorie-Reader aus dem Jahrzehnt versammelt Essays zur Postmoderne: „Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik“ 1990 bei Reclam Leipzig erschienen, mit Beiträgen von Michel Foucault, Paul Virilio, Gilles Deleuze, Hélène Cixous, Luce Irigaray, Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard und anderen. Philosophieästhetisch war das Buch damals Avantgarde und es ist immer noch lesenswert und antiquarisch erhältlich. Heute habe ich nochmal den Essay „Der Walkman-Effekt“ von Shuhei Hosokawa gelesen. Danach besteht die Bedeutung des Walkman in der Distanz, die er zwischen dem Anderen und dem Ich entstehen lässt. Der Walkman verschafft ein Überlegenheitsgefühl, er macht denjenigen, der ihn aufgesetzt hat, zum Geheimnisträger und in der Gesellschaft des Spektakels zum Schauspieler, während die anderen nur Zuschauer bleiben.
8 Kommentare
Olaf Westfeld
Den Reader hatte ich monatelang aus der Universitätsbibliothek ausgeliehen, immer wieder verlängert. Vielleicht mochte ich den Anblick des Buches auf meinem Schreibtisch lieber, als den Inhalt…. Aber einige Texte habe ich schon gelesen, u.a. den Walkman Effekt. Danke, die Erinnerung war verschollen.
Und mit den Listen stimme ich Dir zu. Ich habe in den 90ern wirklich viel Zeit mit dem Hören von Funk und Dub verbracht, das passte in meine Liste nicht rein.
The the habe ich vergessen, ich höre die auch nur noch selten. An Slow Emotion Replay musste ich bei einem Stück von dem Father JohnMisty Album denken, da werden ähnliche Sachen verhandelt (das Lied heißt Spitting Image).
Martina Weber
Aus dem Reader habe ich auch immer noch nicht alles gelesen, obwohl ich es mir vorgenommen hatte 😉 Das ist Lektüre für mehrere Jahre, äh Jahrzehnte. Einige Texte sind auch sehr sperrig. Nachhaltig wirksam ist der Text von Michel de Certeau über die veränderte Lektüre in der Postmoderne. Das trifft die veränderte Ästhetik. Die Theorie von Paul Virilio zur Veränderung der Wahrnehmung durch Flugzeuge und Film hat mich sehr beeindruckt; die Meinung ist ja weit verbreitet und ziemlich bekannt und natürlich ist Virilio nicht der einzige, der sie vertreten hat. Vielleicht war er einer der ersten, die es so auf den Punkt gebracht haben.
Michel Foucault hat hochinteressante Essays über Heterotopien geschrieben. In dem Reader findet sich einer mit dem Titel „Andere Orte“. Ein Text, der einen kulturhistorischen Weitblick über die Nutzung von Räumen im geographischen Sinn gibt. Phänomene, die völlig verloren gegangen sind. Raumnutzung, die für uns heute unvorstellbar sind, die es aber gab!
In einem Radiovortrag sagte Foucault zum Beispiel Folgendes:
„Im 18. Jahrhundert gab es in südamerikanischen Häusern neben oder eigentlich vor der Eingangstür eine kleine Kammer, die direkt von außen erreichbar und für durchreisende Besucher bestimmt war. Das heißt, jeder konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit in diese Kammer kommen, dort schlafen und tun, was ihm beliebte, und am Morgen wieder abreisen, ohne von jemandem gesehen oder erkannt zu werden. Doch da es von dieser Kammer keinen Zugang zum eigentlichen Haus gab, konnte der dort empfangene Gast nicht in das Heim der Familie eindringen. Die Kammer war eine gänzlich äußere Heterotopie. (…) Hier stoßen wir zweifellos auf das eigentliche Wesen der Heterotopien. Sie stellen alle anderen Räume in Frage, und zwar auf zweierlei Weise: entweder wie in den Freudenhäusern, von denen Aragon sprach, indem sie eine Illusion schaffen, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt, oder indem sie ganz real einen anderen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist.“
( aus: Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Ort. Zwei Radiovorträge, S. 18 f.)
The The: hatte ich 1991 über einen Freund kennengelernt. Das war also eher eine Erinnerung an eine Zeit als ein Begeisterungsausruf im Hinblick auf die Band. Bei meinem Lieblingsstück aus Slow Emotion Replay habe ich eine Korrektur gemacht. Nicht Dogs of Lust, sondern Scenes from Arctic Twilight: das sind ganz untypische Tracks für The The. Sie sind rein instrumental, düster, und haben viel untergründiges. Auf Youtube habe ich sie nicht gefunden. Diese Tracks lege ich, seit ich sie wiederentdeckt habe, immer mal wieder auf.
radiohoerer
Danke Martina für deine Anregung, noch einmal über die 90er Jahre nachzudenken.
Ingos Aufforderung hatte mich nicht angesprochen, aber mit deinem Text hatte ich das Gefühl, etwas beitragen zu können.
Mit dem Mauerfall der baldigen „Wiedervereinigung“ konnte ich mir endlich Westschallplatten kaufen! Das war unglaublich. Bestellungen bei Recommended No Man’s Land in Würzburg waren endlich möglich und so kamen LPs von u.a. Biota, Fred Frith, Guy Klusevsek, Motor Totemist Guild, David Garland, Kinothek Percussion Ensemble, :zoviet-france: in mein Plattenregal.
Die Liste der ersten Bestellung habe ich heute noch.
Die Kunst bestand darin, das Geld gut einzuteilen. Zumal ich Vater geworden war und das Geld sowieso knapp war. Die Platten, die man im Radio gehört hatte, endlich in den Händen zu halten, war ein unbeschreibliches Gefühl.
Natürlich war der Katalog von Recommended No Man’s Land auch eine Fundgrube für Neues und Unerhörtes. Die Musik von u.a. Radiohead, Boards of Canada, Nils Petter Molvaer ist natürlich auch nicht spurlos an mir vorübergegangen, aber meine Favoriten liegen woanders.
Und wenn ich mich recht erinnere, Michael wird sich vielleicht erinnern, habe ich in diesen Jahren einen Brief an den DLF und die Klanghorizonte geschrieben mit der Bitte, doch mehr Jazz und etwas mehr Vielfalt zu spielen. Michael spielte daraufhin einen Titel von FMP Records. Das ist lange her.
radiohoerer
Nachtrag:
Beim Lesen eines Beitrags von Jochen Kleinhenz (1994-20024: 30 Jahre „The Great 33 RPM Swindle“), der demnächst auf meinem Blog erscheinen wird, bin ich wieder mit Musik in Berührung gekommen, die in dieser Zeit ein mittleres Erdbeben war. Ohne Aphex Twin und seine „Selected Ambient Works“ sind die 90er Jahre nicht vollständig.
flowworker
@ Radiohoerer: No Man’s Land in Würzburg war schon gegen Ende meiner Studentenjahre Ender der 70’er, Anfang der 80’er DER Plattenladen meines Vertrauens. Da kaufte ich Made To Measure Platten, auch die erste geniale Platte der Violent Femmes. Und und und… obskure Kassetten aus Australien mit einem gewissen Paul Schütze… die Welt des Undergrounds! (m.e.)
Martina Weber
Ich freue mich über deinen Text, Radiohörer! Von deiner Liste klickt es bei mir bei dem Namen Fred Frith. (Ich höre ihn aber nicht im Innern.) Den Namen kann ich nur von den Klanghorizonten kennen. Über einen Mangel an Vielfalt könnte ich mich bei den Klanghorizonten nicht beklagen: die Bandbreite geht doch ins Unendliche (und das meine ich wörtlich, bis in die Stille hinein). Für mehr Jazziges sind die Jazzfacts da.
radiohoerer
Hallo Martina.
Ich muss dir wiedersprechen.
Sieh mal bei mir, was ich unter Release Tipps habe.
Es ist immer, ein sehr persönlicher Blickwinkel, auch auf die Bandbreite und das ist ein Teil von meiner.
Martina Weber
Nun, es ist nicht meine Sache, Michaels Sendung zu verteidigen. Von mir als extrem begeisterter Hörerin der Klanghorizonte seit 1998 nur so viel, dass Michael in der Sendung seine eigene Handschrift nicht nur als besonders eigenwilliger Moderator, sondern natürlich auch in der Auswahl der Musik kundtut. Eine allzu breite Palette des Musikgeschmacks würde die Grenze zur Beliebigkeit überschreiten. Für mich erfüllen die Klanghorizonte in ihrer Gesamtheit meine Bedürfnisse nach musikalischer Seelennahrung zu einem hohen Prozentanteil.