„Oslo Stories: Liebe“

Mit „Oslo Stories“ widmet Regisseur Dag Johan Haugerud der norwegischen Hauptstadt und den Menschen, die sie bewohnen, eine Filmtrilogie, deren drei Teile „Liebe“, „Träume“ und „Sehnsüchte“ nun in kurzen Abständen nacheinander in die deutschen Kinos kommen. Die Zärtlichkeit, mit der der Wissenschaftler zu Beginn von den geologischen Grundlagen der Stadt spricht, spiegelt auch die Haltung, die Haugerud als Regisseur gegenüber seinen Figuren einnimmt.
Im Zentrum von „Oslo Stories: Liebe“ stehen die Urologin Marianne (Andrea Bræin Hovig) und der Krankenpfleger Tor (Tayo Cittadella Jacobsen), die in der onkologischen Abteilung des Krankenhauses eng zusammenarbeiten. Tag für Tag erklärt Marianne mit behutsamer Genauigkeit den zumeist an Prostatakrebs erkrankten Patienten, wie die Behandlung ihres Leidens aussieht und welche Folgen die Operation oder die Strahlentherapie für ihr Sexualleben haben wird.
Sie selbst führt ein ungebundenes Liebesleben, in dem eine feste Beziehung keinen Platz zu haben scheint. Ihre Freundin Heidi (Marte Engebrigtsen) möchte sie unbedingt mit dem netten Geologen von nebenan verkuppeln. Marianne findet den Mann, der behauptet, die Steine hören zu können, durchaus anziehend. Aber Ole ist geschieden, hat zwei Kinder und die Exfrau lebt gleich nebenan. Komplizierte Familienverhältnisse, in die Marianne sich nicht einfügen zu können glaubt.
Eine Fähre wird zum Haupthandlungsort, zu dem der Film immer wieder zurückkehrt – eine Zwischenwelt, in der sich die Figuren begegnen und miteinander austauschen. Auf der Rückfahrt von der Insel trifft Marianne hier ihren Arbeitskollegen Tor, der ihr erzählt, dass er die Fährfahrt zur Kontaktaufnahme mit Männern über die schwule Dating-App Grindr nutzt. Manchmal sind es nur Gespräche, manchmal kurze sexuelle Begegnungen, die gerade durch den zeitlich begrenzten Rahmen der Fährfahrt ihre eigene Intensität bekommen.
Das Modell klingt für Marianne interessant, und als sie beim nächsten Mal von einem abendlichen Date mit Ole von der Insel nach Oslo zurückfährt, schaltet sie die Tinder-App ein. Auf der Bank gegenüber sitzt der Tischler Snekkeren (Morten Svartveit), mit dem sie am Hafenrand eine heiße Nacht verbringt. Snekkeren ist verheiratet, von Schuldgefühlen gegenüber seiner Ehefrau geplagt und lebt über Tinder seine überbordenden sexuellen Bedürfnisse aus.
Derweil trifft Tor auf der Fähre den älteren Psychologen Bjørn (Lars Jacob Holm), der wenig später als Patient auf seiner Station liegt. Entgegen aller Vorschriften bietet er Bjørn an, ihm nach seiner Entlassung aus dem Hospital zu helfen. Zwischen den beiden entsteht eine Beziehung, die mehr als nur eine kurzfristige Affäre sein könnte.
In „Oslo Stories: Liebe“ sinniert der norwegische Schriftsteller und Filmregisseur Haugerud mit erzählerischer und moralischer Gelassenheit über die verschiedenen Daseinsformen der Liebe. Die Figuren sind auf der Suche nach einem passenden Modell und einem passenden Menschen für die eigenen Lebensvorstellungen jenseits der gesellschaftlichen Norm monogamer Zweierbeziehungen.
Wunderbar unideologisch denkt der Film darüber nach, wie persönliches Glück, intime Nähe und eigene Bedürfnisse in das Liebesleben eingebunden werden können. Im Vordergrund stehen dabei immer die Figuren, die sich vor der Kamera in all ihrer überraschenden Widersprüchlichkeit entfalten dürfen. Der Film ist durchdrungen von einem fast schon magischen Humanismus, der in den Menschen vorurteilsfrei das Gute sucht und findet.
Zu diesem erfrischend freigeistigen Konzept gehört auch eine offene Dramaturgie, deren Handlung munter vor sich hin mäandert, anstatt die Entwicklung der Figuren zu forcieren. Ein Film, der sich wie eine liebevolle Umarmung anfühlt und neugierig auf die beiden Nachfolgewerke macht. Am 8. Mai kommt „Oslo Stories: Träume“ in die Kinos, der bei der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde
Ein Gastbeitrag von Martin Schwickert