• [AT 11]: Asmus Tietchens: Musik unter Tage

    Um hier die im Manafonistas-Blog begonnene Tietchens-Reihe fortzusetzen: 

    Ein an Asmus‘ Filteraltar hängender, wenn ich es richtig erinnere, handgeschriebener Zettel sagte einst: „Das Ziel ist der Wahnsinn“. Leider habe ich das Foto nicht mehr. Aber es gibt nur wenige Einspielungen des Meisters, die mir so unmittelbar an diesem Gerät entstanden zu sein scheinen wie diese fünf Tracks, auch wenn als Soundquellen lediglich der Moog Sonic Six und der Minimoog angegeben werden.

    Die Musik unter Tage ist eine Cassettenveröffentlichung, 1983 mit unbekannter Auflage auf dem amerikanischen Aeon-Label erschienen. Als solche war sie letzter Teil einer Art Serie, zu der noch die weiteren Cassetten-Releases Musik an der Grenze (1982), Musik im Schatten (1982) und Musik aus der Grauzone (1981) gehören. 

    Die Musik unter Tage passt in diese Reihe: bohrend, undurchschaubar, ziemlich lichtlos. Mit Ausnahme des Titels „Gelber Himmel“ bestehen die Tracks aus jeweils einem liegenden, durchweg undefinierbaren Dauerklang, der überlagert wird von gefiltertem Rauschen und/oder Klängen, die mir im wesentlichen mit selbstoszillierenden Filtern erzeugt zu sein scheinen. Die Tracks 1 („Strenge Klänge“) und 2 („Dämmerattacke“) gehen dabei ineinander über, ebenso die Tracks 4 („Maschine 6B“, mit 18 Minuten Spieldauer das längste Stück) und 5 („Einer 5“). Lediglich Track 3, „Gelber Himmel“, kommt ein wenig munterer daher, hier ist ein Konglomerat diversen Gefiepses zu hören, das auch ein wenig im Stereopanorama umhergeschickt wird. „Einer 5“, das letzte Stück, ist eine Art Kombination aus beiden Bauprinzipien. 

    Die für Tietchens gelegentlich typische ökonomische Denkweise, wie wir sie auf späteren Platten noch näher kennenlernen werden, zeigt sich darin, dass einiges Klangmaterial dieser Stücke in späteren Einspielungen wieder auftaucht.

    Verglichen mit den deutlich klarer ausgearbeiteten Sky-Einspielungen ist dies ein alles in allem eher simpel strukturiertes Werk; auch innerhalb der Cassetten-Werkgruppe erreicht Tietchens hier nicht die Qualität der Musik an der Grenze. Viel Zeit, behaupte ich mal, hat er in die Aufnahmen nicht investiert. Insofern ist dies sicherlich keine seiner wichtigeren Einspielungen, aber seine Handschrift immerhin wird schon deutlich; da ist jemand erkennbar „auf dem Weg“. Das macht die Musik unter Tage dann doch zu einem Puzzleteil seines Gesamtwerks.

    Musik unter Tage
    Aeon (Fort Collins, Colorado, 1983), keine Bestellnummer
    Keine spätere Wiederveröffentlichung

  • Albums 2024

    It’s Nikolaus Day, which means: Same procedure as every year, time for my favorite 2024 albums.

    This year (don’t take the order too serious):

    • Laurie Anderson: Amelia
    • Ryuichi Sakamoto: Opus (online version)
    • Elephant9 & Terje Rypdal: Catching Fire
    • Can: Live in Paris 1973
    • Can: Live in Aston 1977
    • Nick Cave & Bad Seeds: Wild God (Dolby Atmos)
    • Einstürzende Neubauten: Rampen
    • Peter Thomas: The Tape Masters, Vol. 1
    • Hans Zimmer: Dune, Part 2
    • Dubbelorganisterna: Volym 1

    Furthermore:

    • Hans-Joachim Roedelius: 90
    • Pet Shop Boys: Nonetheless/Furthermore
    • Hermanos Gutiérrez: Sonido Cósmico 

    Rediscovered:

    • Cowboy Junkies: The Trinity Sessions (1988) (Dolby Atmos)
    • Godley & Creme: The History Mix, Vol. 1 (1985)
    • Grateful Dead: Europe ’72 (Dolby Atmos)
    • Jan Hammer: Escape from Television (1987)
    • David (Dave) Holland: Life Cycle (1983)
    • Peter Thomas Sound Orchester: Filmmusik (the 2-CD version, 1992)

    All in all not the strongest year ever, and as always I’m sure I forgot something. I have to admit I fell in love with Dolby Atmos, a great new headphone experience that gives new life even to a record like the Dead’s (although I’m not their biggest fan, but this record is essential anyways). Nice to hear from Terje Rypdal again, this is a melange somewhat between EL&P and King Crimson, hard work, but worth it. Dubbelorganisterna, in case you never heard that name, consists of leftovers from the drawers of late Bo Hansson & friends, recorded 2007 and 2014, limited to 600 copies. Film composer Peter Thomas would be 100 next year, there will be more about him then. Ryuichi Sakamoto needs no comment, this is the final goodbye. Dave Holland’s solo cello recording is the right music for large, bright, white-painted rooms with few furniture. I love it.

    May the next year come (in peace, if possible).

  • 33 1/3: Hounds of Love

    (English version see HERE)

    Hätte mich bis jetzt jemand gefragt, welches ich für das beste Album von Kate Bush halte, ich hätte immer Hounds of Love genannt, das ich allerdings seit Jahren nicht mehr gehört habe. Nach der Lektüre von Leah Kardos‘ Buch bin ich mir nicht mehr sicher, ob es nicht doch eher The Dreaming ist. Nach ihren ersten beiden Platten hatte sich Kate gerade vom bestimmenden Einfluss der EMI befreit, hatte noch keinen eigenen Fairlight und kein eigenes Studio. Den Sampler hatte sie in der Arbeit an Never For Ever kennengelernt und setzte ihn auf The Dreaming mit viel mehr Neugierde ein. Sie lebte ansonsten von Dope, Schokolade, Kartoffelchips und Rotwein und erforschte, was man mit einem Studio so alles anstellen kann, wenn man sein eigener Produzent ist. Deswegen hat sie dann auf dem Grundstück ihrer Eltern ein eigenes gebaut. Auf The Dreaming, so denke ich, fand sie ihre wirkliche Stimme.

    Wobei, damit es kein Missverständnis gibt, klar gesagt sein soll, dass Hounds of Love noch immer ein herausragendes Album ist, das ziemlich konkurrenzlos in der Poplandschaft steht.

    Leah Kardos ist Lecturer in Music an der Kingston University in London. Sie kennt sich also aus und kann sachlich korrekt einordnen, worüber sie schreibt (das ist in der Reihe 33 1/3 leider nicht mehr selbstverständlich). Das Buch ist sehr logisch aufgebaut; nach einigen Worten über das Phänomen Kate Bush und ihre Ausnahmeposition im Musikbusiness und die Vorgänger dieses Albums bespricht Kardos die Platte Track für Track. Dabei geht sie auf die textlichen Inhalte ebenso ein wie auf die eingesetzten Instrumente, die Herkunft einiger Samples (etwa das berühmte „It’s in the trees — it’s coming!“ am Beginn von Track 2), die Musiker und die Produktion im Studio.

    Das Hauptinstrument ist natürlich der Fairlight. Der, und mit ihm die Sampling-Technik, war damals, als das Album produziert wurde, das Neueste vom Neuen, und Kate war eine der ersten überhaupt, die das Ding konsequent einsetzten. Genau das löst heute meine obengenannten Zweifel aus, denn dieser typische, etwas „hauchige“ Fairlight-Sound, der durch die noch recht niedrige Samplingrate zustandekommt und die ganze erste Seite des Albums dominiert, wirkt heute schlicht etwas angestaubt. Interessant ist aber wiederum, welche Sounds eben nicht aus dem Fairlight stammen, sondern von Musikern gespielt werden — und die sind wieder mal handverlesen. Dabei stößt man auf einige Aha-Effekte, die mir bis dato nie bewusst aufgefallen waren, etwa die Tatsache, dass das Schlagzeug (bzw. die Drummachine) vollständig auf Metall (also Becken und Hi-Hat) verzichtet. Zudem gibt es Infos über den inhaltlichen, stellenweise sehr esoterischen, Hintergrund einiger Tracks, etwa „Cloudbusting“. Aber bei Kate wundert einen das dann wieder nicht, ihre Texte hatten schon immer einen Spin in diese Richtung. Und dafür mag man sie ja schließlich.

    Das Album Hounds of Love zerfällt in zwei Teile, die nichts miteinander zu tun haben. Die gesamte Seite 2 wird von dem Songzyklus The Ninth Wave bestimmt, der sowohl instrumental transparenter als auch inhaltlich kohärenter ist als die Seite 1. Auch hier gibt es wieder detaillierte Info sowohl über den Inhalt der einzelnen Songs als auch über die verwendeten Bestandteile. Wo etwa der rettende Hubschrauber herkommt (vom Pink-Floyd-Album The Wall nämlich) hatte ich schon selbst herausgehört, was es aber mit dem unheimlichen Männerchor auf sich hat und was er da eigentlich singt, das war mir neu — ich dachte immer, es sei ein Traditional, aber es ist keines. Dass der Zyklus gelegentlich ein wenig mit Effekten überladen und überproduziert ist, das wird ebenso erwähnt.

    Kardos‘ Blick auf das Album ist von großer Sympathie sowohl für das Werk selbst sowie für Kate Bush gekennzeichnet, ihr hoher Kenntnisstand macht die Lektüre aber nicht unbedingt immer einfach. Liest man etwa über „Mother Stands for Comfort“ einen Satz wie 

    „The verse decends from Am7 to Fmaj9, the temporarily pauses on a hamstrung resolution of Am7 over an E bass. In the reciprocal phrase, it makes a hopeful more to D9 (suggesting dorian mode), then a melancholy pivot to b♭aug4/D, affecting a twisted phrygian modal cadence back to the tonic (Am7) to go around again“,

    dann bin ich mir nicht sicher, ob das für die Mehrheit der Leser noch nachvollziehbar ist. Aber man kann nicht alles haben — will man es gründlich, dann geht es nur so; will man es einfacher, wird es oberflächlicher bleiben.

    Kardos geht im Anschluss noch ebenso gründlich auf die Live-Version der Ninth Wave ein, die Kate 2014 im Londoner Eventim Apollo (= das frühere Hammersmith Odeon, in dem Kate ihre erste und bislang einzige Tournee 1979 beendete) auf die Bühne stellte. Zunächst sollte das Ganze ein Film werden, doch daraus wurde nichts. Und es mussten alle Konzerte in derselben Arena stattfinden, weil eine sehr aufwendige Tontechnik installiert werden sollte. Als dann die 14 Konzerte angekündigt und aufgrund der Reaktionen sofort auf 22 erweitert wurden, waren die Tickets für alle Abende innerhalb einer halben Stunde weg. Einer der Auftritte wurde gefilmt, aber erschienen ist er bislang nicht, weder im Kino noch auf DVD. Dokumentiert ist das Event nur auf dem 3-CD-Album Before the Dawn. Überhaupt ist Kate Bush ja ein Familienunternehmen. Die Familie war irgendwie mit David Gilmour befreundet, der sie dann seinem Hauslabel EMI empfohlen hat. Und wenn Mr. Pink Floyd jemanden empfiehlt, dann widerspricht man nicht. Und ohne Kates Sohn (Bertie) hätte Before the Dawn nicht stattgefunden — wieder die Familie.

    Es folgen am Ende einige Zeilen über die Reaktionen und Meinungen anderer Künstlerinnen (von Tori Amos über Björk bis zu Cat Power) über den Impact von Kate Bush. Dieses himmelhochlobende Kapitel haut mir schlicht zu sehr auf den frauenbewegten Punkt (und das soll Kate Bushs pionierhaftes Wirken nicht schmälern). Dabei geht es mir nicht mal speziell um dieses Buch; ich habe es nie für besonders interessant gehalten, was Künstler A über Künstler B meint. Andy Warhol war gut, weil Andy Warhol gut war, nicht weil er Schulze oder Lehmann beeinflusst hat. Jedes Kunstwerk muss für sich bestehen. Die Werke von Kate Bush können das. Wenn Tori Amos sagt, „the Ninth Wave turned me inside out … It changed my life. I left the man I was living with because of this record“ — dann scheint mir die Beziehung wohl auch schon vorher nicht allzu stabil gewesen zu sein …  

    Aber der Rest des Buches ist lesenswert.

    Leah Kardos:
    Hounds of Love
    Bloomsbury, 33 1/3, New York, London, Dublin 2024
    ISBN 979-8-7651-0699-0

  • Autobahn

    Wen’s interessiert: Im Schweizer Radio SRF Kultur hat Elisabeth Baurethel ein zwölfminütiges Feature über Kraftwerks Autobahn gemacht.

    Die Platte wird heute, am 1. November, 50 Jahre alt.

  • Peter Thomas: The Tape Masters, Vol. 1

    (in english language here)

    Wer die 1960er und 1970er Jahre bewusst mitbekommen hat, der weiß mit ziemlicher Sicherheit, wer Peter Thomas war. Selbst wer den Namen nicht kennt, hat Musik von ihm gehört. Speziell wird jeder, der sich für Filmmusik im Allgemeinen interessiert, bei dieser Namensnennung aufhorchen. 

    Das Peter Thomas Sound Orchester (PTSO) war und ist ein klingender Name: Da war 1966 die siebenteilige TV-Serie Raumpatrouille, die natürlich jeder kennt (und sie bestand durchaus aus mehr als nur einem Bügeleisen), das Jahrzehnt brachte auch die Jerry-Cotton– und die Edgar-Wallace-Filme hervor, fester Bestandteil deutscher Trashkultur. Aber auch ein Meisterwerk wie Dr. Murkes gesammeltes Schweigen (nach der Satire von Heinrich Böll) stammt von 1964. Und die Durbridge-Straßenfeger. Nicht zu vergessen auch die grotesk-bombastische Constantin-Film-Fanfare. In den 1970ern kamen dann Der Kommissar, Derrick, Der Alte oder die ZDF-Show Der große Preis; im Kino gab es lausige Sex-Gurken wie den St. Pauli-Report, der Trash der Siebziger. Und überall hat das PTSO seine Spuren hinterlassen.

    Nächstes Jahr wäre Peter Thomas 100 geworden. Das hat er leider nicht mehr ganz geschafft, 2020 hat er seine kosmische Adresse gewechselt. However, in jenen Jahren war er der deutsche Filmkomponist schlechthin — hunderte von Musiken, ähnlich wie Andy Warhol in seinen frühen Jahren nahm er offenkundig jeden Auftrag an, der zu bekommen war und lieferte zuverlässig bestmögliche Qualität, je nach Zeitrahmen und Budget. Er war unglaublich produktiv, selten waren seine Musiken langweilig, sein Sound, seine Melodieführung war fast immer erkennbar. Nicht selten waren seine Musiken besser als die dazugehörigen Filme. 

    Letzteres verdankt sich nicht zuletzt den Musikern, mit denen er immer wieder zusammenarbeitete, stellvertretend für etliche seien Lothar Meid, Klaus Doldinger, Otto Weiß, Olaf Kübler, Jan Hammer, Ingfried Hoffmann und Albert Mangelsdorff genannt. Denen ließ er, anders als andere Komponisten, große Freiheiten; nicht selten basierten seine Musiken auf Leadsheets, über die mehr oder weniger improvisiert wurde. Mit Eminenzen wie den genannten ging das. Aber auch die Arbeit mit Big Bands und Rundfunkorchestern hatte Thomas penibel drauf. Er war flexibel genug, mit allem zu arbeiten, was sich anbot.

    Und doch fällt in seinen Musiken eine Vorliebe für bestimmte Standardbesetzungen auf: eine Rhythmusgruppe mit Solisten wie den genannten, dazu elektronische Orgel (selten mal ein Klavier), E-Gitarren, E-Bass, dazu Bläser, fast immer drei oder vier Posaunen. Deren Klang war durchaus prägend, das Ganze dann garniert mit viel klingendem Metall, Röhrenglocken, auf der Kuppe angeschlagenen Becken, dazu textlos singende, hohe bis sehr hohe Frauenstimmen (die waren in den 60ern en vogue), alles zusammen übergossen mit kathedralartigem Hall. Das war der Sound Peter Thomas‘. Man erkannte ihn sofort.

    Aber er hatte auch einen Draht zu klanglichen Experimenten. Für die Raumpatrouille verwendete er einen Vocoder. Vermutlich war er damit der erste Musiker, der ein solches Gerät in der Musik einsetzte, lange vor Kraftwerk. Zusammen mit dem Wiener Ingenieur Hansjörg Wicha entwickelte Peter Thomas das Thowiphon, ein Tasteninstrument, das bereits den später entwickelten Synthesizer vorwegnahm.

    Und weil das alles noch nicht reichte, spielte Peter Thomas über seine Auftragskompositionen hinaus unter mehreren Pseudonymen auch sogenannte Archivmusik, auch Stock Music oder Library Music genannt, ein. Darunter sind Kompositionen zu verstehen, die bestimmte Stimmungen und Atmosphären wiedergeben, auslösen oder unterstützen. Sie stehen dann in Musikarchiven zur Verfügung, katalogartig sortiert nach Kategorien wie „Abendstimmung“, „Verfolgungsjagd“, „romantische Liebe“, „Weltall“ und was immer man sich sonst noch vorstellen mag. Werbespots, Wissenschaftsdokumentationen, Tierfilme et cetera geben selten Originalkompositionen in Auftrag, sie greifen stattdessen auf solche Archivproduktionen zurück.

    Und einige dieser Archivmusiken von Peter Thomas sind nun erstmals erhältlich. Sein Sohn Philip, der sich seit einigen Jahren dahinterklemmt, Thomas‘ hunderte hinterlassene Tonbänder durchzugehen, zu restaurieren und sie sinnvoll zusammengestellt zu veröffentlichen, hat jetzt 25 solcher Archivtracks zusammengefasst.

    Diese Tape Masters Vol. 1 bieten auf zwei 10-inch-LPs einen Querschnitt durch Thomas‘ Archivschaffen, und man staunt, wie vielfältig das ist. Große Besetzungen wechseln sich ab mit kleinen Combos, elektronische Experimentierereien kontrastieren mit eher hingeworfenen Skizzen, Klänge, die an Auftragskompositionen anknüpfen, folgen auf völlig eigenständige Werke, satter, jazziger Bigbandsound folgt auf Harfenklänge, Zupfgeigen oder spacige Weltraumsounds in der Nachfolge des Raumschiffes Orion, auch ein schräger „Nightmare on LSD“ ist zu hören. Die meisten Stücke bewegen sich zwischen 1:30 und 2:30, zu hören inzwischen auch in den üblichen Streamingdiensten.

    Diese Scheibe ist schon jetzt ein ziemlich sicherer Kandidat für meine Jahresliste. Unbedingte Empfehlung. 

  • Americana

    Der Autor dieses Buches, Thomas Kraft, hat sich schon mit Radio-DJs, der Punk-Bewegung und so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Leonard Cohen, den Beatles oder Klaus Kreuzeder beschäftigt und ist auch sonst sehr umtriebig. Nun hat er sich ein Genre vorgenommen, das aus der US-Countrymusik entstanden ist und diese seit einigen Jahren mehr und mehr vereinnahmt: Americana.

    Wenn in Deutschland heute von den USA die Rede ist, dann ist es offenbar Standard geworden, sie als mindestens „tief gespalten“ darzustellen, als ein Land, in dem es bei gleichzeitiger religiöser Verblendung sozial und politisch an allen Ecken brennt, in dem Chaos, Schießereien, Rassismus und Polizeigewalt die Städte beherrschen. Drunter tun wir’s nicht. 

    In dieser Hinsicht lässt sich auch dieses Buch nicht lumpen: „Ein zerrissenes Land im Spiegel der Country Music“ soll uns vorgestellt werden. Auf 30 Seiten Einführung über „Country und Politik“ folgen konsequent nochmal rund 30 Seiten über „das zerrissene Land“, wie es der Autor sieht. Und da fehlt nichts, von „Black Lives Matter“ bis zu Trump, von 50.000 Obdachlosen in Los Angeles bis zu der Behauptung, in Washington sei eine weiße Durchschnittsfamilie 81-mal (!) reicher als eine schwarze. (Man überlege vielleicht kurz, wer in Washington lebt.) Seite um Seite folgt eine soziale Katastrophe der nächsten, das Elend ist himmelschreiend, die Dramaturgie dieser beiden Kapitel folgt der alten Drehbuchweisheit: „Mit einem Erdbeben beginnen und dann langsam steigern“. Man ahnt ja, was der Autor will, aber irgendwann fragt sich auch der gutwilligste Leser, weshalb die Menschen, wenn doch alles so trostlos und schrecklich ist, nicht scharenweise nach Kuba oder Mexiko fliehen.  

    Das Problematische an solchen US-Darstellungen ist immer, dass sie stimmen, aber trotzdem ein falsches Bild liefern. Denn obwohl das fast alles richtig ist, sind die USA noch immer eines der freiesten, offensten und kreativsten Länder der Welt. Wie kommen also solche Schlüsse zustande? 

    So: Es werden deutsche Maßstäbe an die Lebens- und Denkweise der US-Amerikaner angelegt, und das geht fast zwangsläufig schief. Man meint in Deutschland immer, man wisse ja, „wie der Ami so tickt“ — aber man weiß es nicht. Die USA haben eine völlig andere kulturelle Prägung als europäische Länder — aber wie anders, das lernt man nicht in einem oder zwei Studiensemestern oder ein paar Urlaubsreisen. Das braucht Jahre. Ich lebe seit jetzt 17 Jahren in den USA, und noch immer kann mich dieses Land täglich überraschen.

    Man muss sich klarmachen, dass genau diese Widersprüche, diese sozialen und politischen Probleme der Motor sind, der die USA voranbringt. Sie lösen die Kreativität aus, weil man weiß, dass kein Politiker und keine staatliche Stelle kommen und sie lösen wird, sondern dass man sie selbst lösen muss. Während in Deutschland für jeden Gullydeckel „die Politik“ zuständig ist, hält man sich hier die Politik lieber vom Leib. Dieses riesige Land, das schon innerhalb seiner eigenen Grenzen so vielfältig ist wie kaum ein anderes, ist in ständiger Veränderung und Bewegung, und das funktioniert, weil alle seit je damit zu leben gelernt haben, dass sie ein Teil dieses Prozesses sind.

    Diese Anmerkungen sollen nun aber niemanden davon abhalten, Thomas Krafts Buch zu lesen. Je länger man nämlich darin liest, desto mehr wird fast beiläufig deutlich, was eigentlich die ursprüngliche Quelle der Country-Musik gewesen ist. Oder sagen wir: was eigentlich die Themen waren, die die Country-Musik geprägt haben. Weshalb sie in den USA entstanden ist, und weshalb sie nur hier entstehen konnte. Es war der Alltag, aber keineswegs der stets heile Alltag. Den gab es nie. Es waren und sind genau diese obengenannten Themen, die ihren Einfluss eingebracht haben, und trotzdem schließt es Kommerzialität nicht aus. Eine Sängerin wie etwa Loretta Lynn hat das immer gewusst, hat es nie ausgeklammert, und genau das hat ihren Erfolg ausgemacht. Das Volk, wie schon Brecht festgestellt hat, ist nämlich keineswegs so tümlich, wie man es ihm gern unterstellt.

    Wenn man das im Hinterkopf behält, dann wird das vorliegende Buch von diesem Punkt an hochinteressant. In Kapitel 3, betitelt „Americana“, schildert Thomas Kraft auf rund 150 Seiten die Geschichte der Country-Musik, ihre Wurzeln und ihre Entwicklung bis heute. Hier wird dann auch deutlich, weshalb diese Musik mehr als fast jede andere originär amerikanische Musikform immer ein Spiegelbild der US-Gesellschaft gewesen ist. Dabei holt der Autor weit aus, es werden nicht nur die Country-Stars im engeren Sinne vorgestellt, Leute also wie Hank Williams oder Johnny Cash, sondern auch Künstler, die aus anderen Ecken kommen, von der Creedence Clearwater Revival über Tom Petty bis zu Bob Dylan, von Willy Nelson, die Highwaymen über Doug Sahm und sein wunderbares Sir Douglas Quintet bis hin zum Tex-Mex. Auch die Arbeit einiger Produzenten wird berücksichtigt, erwähnt seien Daniel Lanois oder Owen Bradley. Da ergibt sich eine umfassende Genrebezeichnung wie „Americana“ fast von selbst. Und der Witz ist, dass das alles zusammenpasst: Musikindustrie, Kommerz, die hochkommerzielle Grand Ole Opry, die Glitzeranzüge und überdimensionalen Stetsons, Johnny Cashs Folsom Prison, die Blue Ridge Mountains, der Mississippi, die nicht ausgesprochene Scheidung („D-I-V-O-R-C-E“) und die Vagabundenromantik der Eisenbahn, „this little teardrop“ auf der Stimme einer tammy Wynette, einer Dolly Parton, die sich selbst auf die Schippe nimmt, indem sie sagt, es sei elend teuer, so billig auszusehen wie sie. So geht das. Es wird klar gesagt, dass manche Leute zu reich sind, aber eben auch, dass auch sie sich für all ihr Geld keine andere Coke kaufen können als du und ich.

    Kleiner Schönheitsfehler: Dieses Kapitel ist zwar chronologisch, gleichzeitig aber als fortlaufende Darstellung angelegt, die von einem Namen zum nächsten springt. Da vermisst man schmerzlich ein Namensregister, das den Zugriff auf einzelne Künstlerpersonen und das Wiederfinden sehr erleichtern würde. Und klar, ein Vorhaben wie dieses Kapitel kann nicht vollständig sein, der Autor musste eine Auswahl treffen. So wird etwa die wunderbare k.d. lang, die das Countrygenre gleichermaßen lieben wie hochnehmen kann, auf gerade mal einer halben Seite abgehandelt, auch etwa Linda Ronstadts Einfluss auf das Entstehen von Bands wie den Eagles und ihr Umfeld vermisse ich.

    Das ist aber zu verschmerzen, denn im letzten Teil des Buches stellt der Autor nicht weniger als 500 Alben vor, chronologisch von 1966 bis heute, viele davon mit kurzen oder ausführlichen Kommentaren. Hier findet man neben Genreklassikern auch viele Geheimtipps. Namen wie Tom Petty oder Lucinda Williams tauchen immer wieder auf, Emmylou Harris und Gram Parsons, aber eben auch The Band, The Byrds, die Allman Brothers, Lynyrd Skynyrd oder eben CCR. Fast alle dieser Platten sind mittlerweile auch in den Streamingdiensten zu finden. Eine Zusammenfassung der vielleicht 20 besten dieser Alben wäre schön gewesen, aber ohne sie kann man sich tagelang mit eigenen Forschungsarbeiten beschäftigen und lernt dabei mehr und Interessanteres kennen.

    Das Buch kommt im übrigen mit vielen Fotos daher, die das Blättern zum Vergnügen machen. Ich kenne in deutscher Sprache kein vergleichbar informatives und gut lesbar geschriebenes Buch zum Thema — unbedingte Empfehlung.

    Wer dann auf den Geschmack kommt und weiterforschen möchte, sei vielleicht noch auf Ken Burns erstklassige PBS-Serie „Country Music“ von 2019 hingewiesen; mehr dazu hier.

    Thomas Kraft:
    Americana — Ein zerrissenes Land im Spiegel der Country Music
    315 Seiten mit vielen Fotos
    Verlag Andreas Reiffer, Meine 2024
    ISBN 978-3-910335-25-7, 25 €

  • Gong!

    Gestern vor 40 Jahren: Start einer der besten Produktionen, die die ARD je zustande gebracht hat. Danach dann „Hundert Meisterwerke“ — heute kann man sich kaum noch vorstellen, dass sowas im deutschen Buntfernsehen mal Programmbestandteil war.

    Und das Ganze dann noch im „Gong“. Das war eine Frage mit viel versteckten Background: „Gong oder HörZu?“ Und dann gab’s noch den traurigen Rest, der die „Funkuhr“ oder „TV hören und sehen“ hatte.

  • Amelia

    „Die Leute haben geklatscht, wie man das halt so macht. Aber ich wäre am liebsten im Boden versunken. Eine sinfonische Komposition war ein Novum für mich. Ich hatte keine Ahnung, wie man so was macht. Nie wieder, sagte ich mir.“

    Laurie Anderson in einem NZZ-Interview über die Premiere von Amelia im Jahr 2000. Aber der Dirigent des Werkes, Dennis Russell Davies, sah die Sache offenbar nicht ganz so katastrophal und behielt das Stück im Kopf. Einige Jahre später schlug er Laurie vor, es ein zweites Mal zu riskieren, diesmal aber mit auf die Streicher reduziertem Orchester. Das gefiel ihr schon besser.

    Es dauerte dann nochmals einige Jahre, bis Davies, der inzwischen Chefdirigent der Philharmonie Brünn geworden war, ihr vorschlug, das Werk nochmals auf die Bühne zu stellen. Den Mitschnitt dieser Version bearbeitete Laurie nach: Mit allerlei elektronischen Tricks aus ihrer eigenen Werkstatt und einigen Mitteln, die man aus der Hörspielproduktion kennt, veränderte sie Teile ihrer Sprechstimme (tatsächlich sind es wohl um die zehn verschiedene Stimmen, die sie so erzeugte), fügte Perkussionsinstrumente hinzu und heuerte als ergänzende Vokalistin die Künstlerin Anohni an. Das Ergebnis gibt es nun als Platte. 

    Als ich meiner Liebsten erzählte, von Laurie Anderson sei eine Platte über Amelia Earhart zu erwarten, war ihre Reaktion, ob man denn da nichts Interessanteres hätte finden können. Ich wusste nicht, dass die amerikanischen Kinder mit der Geschichte dieser Flugpionierin schon in der Schule zugeschüttet werden. Insofern war ich ein bisschen skeptisch, was da wohl kommen würde.

    Das Resultat ist trotz des recht sanften Gesamteindrucks kein Easy Listening. Es ist, soweit ich erinnere, das erste Mal, dass Laurie Anderson eine durchgehende, in sich geschlossene Geschichte erzählt, und die Platte erzeugt ein irgendwie ungutes Gefühl; man weiß ja, wie sie enden wird. Schockmomente gibt es aber nur selten, und selbst sie sind eher relativ. Das ist einerseits ein bisschen verblüffend, denn immerhin geht es um die versuchte Weltumrundung, die Amelia Earhart 1937 als erste Pilotin startete und die für sie und ihren Co-Piloten tödlich endete. Andererseits aber würden solche Ausbrüche wohl nicht mehr zu Lauries inzwischen doch sehr gereifter Stimme passen. Insgesamt ist das Werk eher harmonisch gehalten, verfügt aber dennoch über die Anderson-typische Intensität, die man von ihr kennt. Und die hält bis zum Ende, das nach 34 Minuten eher angedeutet als ausgespielt wird.

    Wir folgen dem Flug, bis über dem Pazifik der Funkkontakt abbricht. Es gab später mehrere Suchaktionen, aber bis heute sind die Trümmer der Maschine nicht gefunden worden. Laurie verwendet unter anderem Texte, die auf Protokollen des Funkverkehrs, auf Interviews während Zwischenlandungen und Flugtagebüchern basieren. Der vollständige Text liegt der LP bzw. der CD bei; man muss ihn mitlesen, weil die Dramaturgie der Aufnahme einige Passagen fast unkenntlich macht.

    Als nächstes soll dann wohl entweder United States, Part V folgen (für mein Gefühl vielleicht nicht unbedingt die beste Idee), oder, so ließ Laurie in einem „Guardian“-Interview verlauten, „von einem Schiff namens Arche.“ Warten wir’s ab.

    Frühbesteller des Albums Amelia erhielten zusätzlich eine signierte Druckgrafik im LP-Format. Sie zeigt ein seltenes, Fliegern aber bekanntes Phänomen: einen ringförmigen Regenbogen, der den Schatten des Flugzeuges auf der Regenwand umschließt. Ein passendes Bild.