Eine Woche Kalabrien

Dank Ingar Zach gerade eine Woche zu Besuch in Kalabrien. Lange Zugfahrten durch den Süden Italiens. Für den Umstieg in Rom hatte ich mir vorausschauend zwei, drei Stunden eingeplant, um ein paar Schritte durch die Stadt gehen zu können – und damit ich nicht weiterhin sagen muss, dass ich noch nie dort war. Einmal zum Colosseo und zurück zum Bahnhof. Natürlich ein Abstecher in eine Gelateria, fior di latte genießen. Auch der Kaffee, im Besonderen der Espresso, ist unglaublich gut dort unten. Ich könnte den ganzen Tag nichts anderes trinken, würde mein Magen das mitmachen. Auch der tägliche katalanische Weißwein bescherte mir nicht die üblichen Magen- oder Kopfbeschwerden. Und das Essen! Es ist für mich jedes Mal von Neuem unglaublich, wie unbeschreiblich gut und vielfältig das italienische Essen ist, selbst die einfachsten Gerichte. Im Hotel Kennedy in Roccella gab es zu jedem Mittag- und jedem Abendessen jeweils drei Antipasti, drei Primi und drei Secondi zur Auswahl  — und die Wahl fiel tagtäglich schwer. 

Für mich, der ich schon einige Male im nördlichsten Norwegen umhergefahren bin, strahlt Kalabrien eine ähnliche Attraktivität aus: Oftmals faszinieren mich Grenz- und Randgebiete. Das südliche Ende vom europäischen Festland und das nördliche Ende haben allerdings nicht wirklich viel gemein, die Menschen schon gar nicht, von einer gewissen Grundfreundlichkeit und Neugier auf Besuchende mal abgesehen. Aufgefallen ist mir, dass nahezu niemand englisch spricht, maximal ein paar Bruchstücke. Anders als viele Leute in meinem Bekanntenkreis war ich nie in Südamerika (einige von ihnen stammen aus Chile, Argentinien, Brasilien …), ein Grund ist, dass ich weder spanisch noch portugiesisch spreche und entsprechend ziemlichen Respekt davor habe, mich in einem Kontinent fortzubewegen, wo ich die Menschen nicht verstehen und mich im Ernstfall nicht verständlich machen kann. Die Woche in Kalabrien bestärkte solche Bedenken. Wenn ich in einem kleinen Lokal (als einziger Gast) keinem einzigen der dort Arbeitenden verständlich machen kann, dass die Wartezeit zu lang geworden ist, und da mein Bus (auf den ich 90 Minuten gewartet habe) in fünf Minuten ein paar hundert Meter entfernt abfährt und ich das bestellte Essen daher bitte eingepackt haben möchte, bekomme ich ein Gefühl dafür, wie es mir in Südamerika ergehen dürfte.

Kaum jemand, egal ob jung oder alt, verstand irgendwas von dem, was ich in gebrochenem Englisch zu vermitteln versuchte. Und andersrum musste ich einsehen, dass auch Jahrzehnte langes Studium des Gesamtwerks von Gianna Nannini dabei nahezu nahezu keinen Nutzen bringt. Ich war ganz aus dem Konzept, als auf dem Zwischenstopp der Rückfahrt der junge Angestellte in der Gelateria in Rom direkt auf englisch rückfragte, ob ich das Eis in einer Waffel möchte.

Ich muss gleichwohl gestehen, dass eine Woche Dauerbeschallung einer Gruppe italienisch sprechender Musiker(innen) [genauer gesagt sind Ingar Zach und Frances-Marie Uitti norwegisch bzw. US-amerikanisch, beide aber seit Jahrzehnten außerhalb ihres Geburtslandes zu Hause und aus persönlichen Gründen fließend italienisch sprechend], wovon ich als einziger nicht der italienischen Sprache Mächtiger zumeist nicht mehr als Bahnhof und Castello verstand, mir am Ende wirklich die Ohren klingeln ließen. Irgendwie bin ich doch ganz froh, dass ich diesem extrem exaltierten Sprachgestus nicht tagtäglich ausgesetzt bin. Wenn ich Leuten erzähle, dass ich schon mein Leben lang mit großer Begeisterung Gianna Nannini und ihre mittlerweile rund 30 Alben höre, ernte ich nicht selten eine Prise Fragezeichen – nicht nur weil die meisten Westdeutschen ihr enorm vielseitiges Werk auf eine Handvoll Radiohits reduzieren, sondern auch, weil es gerne mal heißt, sie würde ja immer so „rumschreien“. Gegen den gefühlt immer gleichen überkandidelten Ton, den viele  Menschen hier, bevorzugt Frauen, an den Tag legen, ist das ja gar nichts!

Apropos, lustige Zufallsbegegnung, der Musiker, der dieses Residenzfestival („Locrian Department Festival“) ins Leben gerufen hat und kuratiert, Tommaso (unten auf zwei Fotos zu sehen), hat 1986, als junger Mann von 18 Jahren, Nannini in Conny Planks Studio kennengelernt und später auf ein paar ihrer Alben Gitarre gespielt und an Songs mitgeschrieben, unter anderem der Filmmusik zum Zeichentrickfilm „Momo“ Ende der 1990er, an dem zufälligerweise auch meine Wenigkeit Mitarbeiter war (bedauerlicherweise ohne G.N. in diesem Zuge kennenlernen zu können). Tommaso freute sich zu hören, dass ich sein Gitarrenspiel bereits in meiner gut achtstündigen G.N.-iTunes-Zusammenstellung auf meinem Taschencomputertelefon habe und damit immer bei mir trage, da diese rund 100 sorgsam ausgewählten Lieblingslieder des Œuvres mir zu fast jedem Zeitpunkt, sei es auf Autofahrten, in Warteschlangen an Bahnhöfen und Flughäfen oder beim Tippen eines solchen Texts, zuverlässig Freude zu bereiten vermögen.

Anbei noch ein paar Fotos von der Arbeitsstimmung in Roccella, die ich in Stand- und Bewegtbild dokumentierte. 

6 Kommentare

  • flowworker

    Was für eine tolle kleine Reisegeschichte…. man könnte eine Film daraus machen a la „Lost In Translation“, und das mit Tommaso und Momo ist schon ein unglaublicher Zufall …

    … ich war nur selten in Bella Italia, die Lust am dortigen Essen teile ich voll und ganz, die stets wilden Sprachkaskaden waren auch nie meins.

    Ich habe hier irgendwo ein tolles italienisches Kochbuch… wenn mir da was Prächtiges gelingt, werde ich berichten 😅

    M.E.

  • Henning Bolte

    Frances-Marie Uitti ist/war in Amsterdam ansaessig und ist mit dem Italienischen vertraut, weil sie viel mit dem Werk besonderen Werk von Giacinto Scelsi (1905-1988) gearbeitet hat.

    Empfehlung zu kalabrischen musikalischen Spheren und Spuren: AVA TRIO (Guiseppe Doronzo, Esat Ekincioglu, Pino Basile) nebst trio Giuseppe Doronzo/Andy Moor/Frank Rosaly (album FUTURO ANCESTRALE)

  • Ingo J. Biermann

    Frances-Marie lebt nach wie vor in Amsterdam, und ihr Italienisch kommt nicht zuletzt daher, dass sie viele Jahre lang in Rom und in Siena gelebt hat. Sie hat schn recht früh ihre US-Heimat gegen Europa eingetauscht und ist seitdem auf unserer Seite des Atlantiks beheimatet.

  • flowworker

    Das Foto unten rechts: ist sie dorthin gegangen, um im Freien zu spielen, mitten in der Natur? Als Ritual oder kleines Solokonzert für Freunde? Vor dem legendären ersten Manatreffen hätten wir fast die Sheriffs of Nothingness nach Sylt geholt, damit sie ihre free improvs am Meeressaum spielen, für die Manas und Gäste, die über die Sylter Tageszeitung informiert worden wären….m.e.

  • Olaf Westfeld

    In Italien war ich fast nur auf Klassenfahrt. Toskana – Florenz, Siena, San Gimignano, Cinque Terre – ist perfekt dafür. Nicht nur wunderschön, ich kann das auch ohne großen Aufwand vorbereiten. Weiter südlich als Rom war ich dann allerdings noch nie. Und ja: Essen, Trinken, alles oberfein!

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