Can: Live in Paris 1973

Nach gleichartigen Veröffentlichungen aus Stuttgart, Brighton und Cuxhaven mit Can in Viererbesetzung, die aus der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stammen, kommt hier nun ein Livemitschnitt von 1973 — zu fünft, denn dies war einer von Damo Suzukis letzten Auftritten mit Can.

Wie schon die anderen drei Alben basiert auch Live in Paris 1973 auf ursprünglich illegal mitgeschnittenen Bootlegs, die von Fans zur Verfügung gestellt und von Irmin Schmidt und René Tinner sorgfältig restauriert und optimiert wurden. Die Tonqualität ist verblüffend gut; zu bemängeln wäre höchstens, dass die Aufnahmen in mono sind, aber das kann angesichts ihrer Quellen nicht anders sein. Man vergisst das beim Hören sehr schnell.

Wenn es um Liveaufnahmen von Can geht, ist oft Vorsicht angesagt. Denn über weite Strecken wurde auf der Bühne improvisiert, und bis die Band ihren Stiefel gefunden hatte, das konnte dauern. Wenn sie ihn dann aber hatte, dann konnte pure Magie passieren. Und das ist auf dieser Platte eingefangen.

Gleich der erste Track mit einer Spieldauer von 36 Minuten ist ein Erlebnis. Aus dem, was die fünf hier fast beiläufig präsentieren, hätten andere Bands drei komplette LPs gemacht, bei Can dienen die Ideen einfach nur dazu, weiterentwickelt zu werden. Es ist wie Fahrradfahren: Wer stehenbleibt, fällt um. Die Magie Cans beruht nicht zuletzt darauf, dass jede noch so verrückt scheinende Idee, jede Phrase, jede Floskel, die einem der Musiker einfällt, mit Sicherheit von einem der anderen aufgenommen und weitergesponnen wird. Immer konnte sich jeder darauf verlassen, dass keiner der anderen etwa „He, was soll denn das jetzt?“ sagen würde, sondern der Ball wurde weitergekickt. Dabei mussten keineswegs immer alle gleichzeitig spielen; Zuhören und Abwarten konnte genauso ein Beitrag zum Gesamtergebnis sein. Dieser Track Eins zeigt das mustergültig. Michael Karoli an der Gitarre hört man hier mit einem Höhenflug, wie man ihn selbst bei ihm selten erlebt hat.

Die anderen vier Tracks sind kürzer und — was bei Can-Konzerten keineswegs selbstverständlich war — beruhen auf sofort erkennbaren Tracks der Studioalben bzw. der B-Seite der „Spoon“-Single; „Shikako Maru Ten“ hieß das Stück, eine ausgedehnte Impro-Version von „Spoon“ gibt es dann als Track Drei. Den Ursprung des Tracks Vier kann ich nicht unterbringen, obwohl er mir vertraut vorkommt; der auf die Dauer ein wenig zerfahren wirkende Track Fünf hat dann eindeutig „Vitamin C“ zu Grundlage. Dass deser Track nach 13 Minuten plötzlich abreißt, zeigt die Herkunft des Mitschnitts: Offenkundig war da bei dem bootleggenden Fan die Cassette zu Ende. Da hätte man vielleicht auch ein Fadeout einsetzen können, aber man hat sich dafür entschieden, den Hörer aus der Kurve fliegen zu lassen. Hat auch seinen Reiz.

Von den bisher erschienenen Alben der „Live“-Reihe ist Live in Paris 1973 ganz sicher das stärkste. Einmal mehr wird wieder deutlich, weshalb Can musikalisch so gut wie unangreifbar war.

2 Kommentare

  • flowworker

    Das war um die Zeit, das Pariser Konzert, als wir unsere Abitururkunde empfangen haben. Leider sah ich sie nie live. Zu der Zeit hatte ich Tago Mago (die Sounds Besprechung mokierte sich über das zu laute Drumming von Liebezeit, haha) – und wohl auch Ege Bamyasi – da erfuhr ich zum ersten Mal, was Okraschoten sind, und beide Platten blieben meine Favoriten. Das Stück 5 – mit dem leichten Zerfasern kann ich gut leben, enthält es doch mein absolutes Lieblingsohrwurmmotiv von Irmins Keyboards, was, wie es sich bei diesen Meistern der Wiederkehr & des Zyklischen gehört, genau das tat – wieder und wieder auftauchen nämlich. Einkreisen und erfinden. The deep stuff…

    (Ah, ich muss mich bei flowworker wieder ab- und mit meinem Autorennamen und Passwort wieder anmelden) M.E.

  • Martina Weber

    Eine sehr anschauliche Besprechung, die sehr viel Lust auf das Konzert macht. Ich habe mich gleich an das Konzert in Soest im Winter 1970 erinnert, das ich vor zehn Jahren nachts im Fernsehen gesehen habe. Ich habe auf unserem alten Blog darüber geschrieben und auch ein paar Fotos gepostet. Die visuelle Atmosphäre gibt dem Konzert nochmal eine andere Ebene. Hier ist der Link: https://www.manafonistas.de/2014/04/12/dont-turn-the-light-on/

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert