Poetry

Robert Macfarlane & Stanley Donwood: Ness // Hayden Thorpe: Ness

Es gibt solche Räume der  Natur, zuhauf,  in denen sich die dunkle Historie und die Pracht der natürlichen Welt überlagern, verdrängen. Um einen solchen Raum in Suffolk / Norfolk / East Anglia geht es in der „prose poetry“ von Robert Macfarlane.

Auch wenn das Buch, eng gedacht, der Prosa zuzurechnen ist, verspürt man einen Sound, eine Art Gesang in diesem Meisterstück des „nature writing“, der ihm durchweg ein poetisches Flair verleiht. Keine 100 Seiten lang ist dieses Büchlein, und noch hat sich kein Verlag herzulande an die deutsche Übersetzung getraut.

Umso bewundernswerter, dass sich der Musiker und Komponist Hayden Thorpe dieser Arbeit genähert hat, in der sich alte und neue Zeiten spiegeln, Todesgefahr, Bombenbau, kalter Krieg. Die Zeiten haben sich nicht geändert, dort aber ist mittlerweile alles, soweit möglich, „renaturiert“.

Einmal mehr, nach W. G. Sebalds „Die Ringe des Saturn“, eine fesselnde Wanderung durch Küstengebiete im Südosten Englands: Geschichtsstunde, Meditation, Songrreigen in einem.

Was drohen da alles für Fallen (frömmelnde Erhabenheit, ein Himmel voller Geigen, und mehr) – nur scheint mir Hayden Thorpe in keine einzige getappt zu sein. „Ness“ (LP, CD, DL) ist ein Klassealbum. Und „Ness“ ist magische Poesie.

Im Mittelpunkt sowohl von Roberts Buch als auch von Haydens Album steht Orford Ness, ein zehn Meilen langer Strand an der Küste von Suffolk. Wenn man sich mit der Geschichte dieses Ortes befasst, ist es leicht zu verstehen, warum sich diese Künstler zu einem solchen Ort hingezogen fühlten. Als ehemaliger Standort des Verteidigungsministeriums für die Entwicklung von Waffen während der beiden Weltkriege und des Kalten Krieges, an dem das Atomwaffenarsenal des Landes gebaut und getestet wurde, wurde Orford Ness 1993 vom National Trust erworben und seitdem in ein Naturschutzgebiet an der Küste umgewandelt. Ein Ort, an dem die dunkle Geschichte der Menschheit und die Pracht der natürlichen Welt aufeinanderprallen – und das unter den heutigen Bedrohungen durch zunehmende politische Spannungen und verheerende Auswirkungen des Klimawandels -, ist Ness im Jahr 2024 ein sehr passendes Thema.

Auch wenn das Album letztlich unter Haydens Namen erscheint, handelt es sich bei diesem Projekt um eine umfassende Zusammenarbeit. Mit Robert Macfarlanes Worten als Text und Muse, der Zusammenarbeit mit Jack McNeill vom modernen Ensemble Propellor für die Orchesterarrangements und dem preisgekrönten Komponisten Kerry Andrew für die Chorharmonien hat Hayden sein Blut, seinen Schweiß und seine Tränen in die Produktion eines atemberaubenden Werks von wahrer Pracht gesteckt. Jeder Song erweckt ein Kapitel aus Roberts Buch zum Leben. Das Album entführt den Hörer in das geheimnisvolle Land Ness, in ein faszinierendes Meer aus reichhaltiger Instrumentierung, poetischen Texten und prächtigem Gesang.

Der Opener „Merman“ ist ein sofortiges Highlight, das zu den Klängen eines pochenden, herzschlagähnlichen Basses und einer heulenden Klarinette unheilvoll ankommt. Schon bald gleitet der vertraute Klang von Haydens ätherischem Gesang über die klaustrophobische Atmosphäre und bildet einen Kontrast, der so wundersam mythisch ist wie der Protagonist des Songs. Es folgt das treffend betitelte ‚WTF is that?‘, ein bedrohliches und bizarr faszinierendes Instrumental, durchzogen von kaum entzifferbarem, verzerrtem Gesang. Ein fesselnder Eröffnungszweiteiler, der Sie an Ihre Kopfhörer fesseln wird.

Die Grüne Kapelle ist ein wiederkehrender Schauplatz in Roberts Buch, den Hayden durch den Refrain „Song of the Bomb“, der sich durch das gesamte Album zieht und mit „In The Green Chapel“ beginnt, wirkungsvoll in die Komposition überträgt. Das Stück ist eine wunderschöne folkige Hymne, die an die frühen Fleet Foxes erinnert, mit sanfter Akustik und mantraartigen Harmonien. Wie aus dem Nichts erklingen dann statische Synthesizer, die die Ankunft von „It“ markieren, dem Song, der am meisten an Haydens Wild Beasts-Tage erinnert, mit seiner rasanten Strophe, die in einem sofort eingängigen Groove dahinhüpft.


Nach dem klarinettenlastigen Spoken-Word-Zwischenspiel „Gull“ schließt die aktuelle Single „He“ die Seite A ab. Die schwungvolle Melodie wird von Haydens unnachahmlicher Falsettstimme gesungen, bis sie ein dunkles, dramatisches Gackern erreicht, das zweifellos „das Gezacker und Gezeter der Möwen“ darstellt. Es ist der brillanteste maximalistische Moment des Albums, bei dem die Instrumentierung Elektronik mit einer Sackbut (einer frühen Posaune aus dem 15. Jahrhundert) und einem Spinett (einem kleinen Cembalo aus dem 17. Jahrhundert) zu einem Spukhaus des Klangs verschmilzt.

So fantastisch die erste Hälfte des Albums auch ist, Seite B ist noch bezaubernder. Ein weiteres Zwischenspiel, „Hagstone“, lässt den Hörer schnell wieder in die Welt von „Ness“ eintauchen, bevor „She“ sich von den Sporen der Natur inspirieren lässt und sie durch einen beruhigenden, sinnlichen Walzer weitergibt. Der „Song of the Bomb“-Refrain kehrt dann zurück, diesmal mit mitreißenden Rock-Riffs und großen Bläsersätzen.

Nachdem die plinky-plonky Rhythmen der Leadsingle „They“ eine Vision von Ness zur Sommerzeit vermitteln, erreicht die Erzählung „Song of the Bomb“ ihren großen Höhepunkt auf schillernde Weise. V.“ ist der frühe Anwärter auf den Höhepunkt der ganzen Platte, der mit einer sirenenartigen Warnung und Haydens gesprochener Strophe beginnt, bevor er in pulsierende elektronische Musik und Kerry Andrews fesselnden Refrain übergeht.

„As“, das eine Verschnaufpause braucht, zieht das Tempo wieder an und ist ein spiritueller Folksong, der fast mittelalterlich anmutet. Kerry Andrews Chorharmonien mit Hayden sind wieder einmal sehr eindrucksvoll, wenn sie beide „As is nothingness… As is forgiveness“ singen, bevor der Track mit Robert Macfarlanes Lesung endet. Leider ist es dann an der Zeit, sich von Ness zu verabschieden.

Closer Away“ ist ein angemessenes Gänsehaut-induzierendes Finale, das mit wunderschönem Klavier und Holzbläsern sowie Haydens und Kerry Andrews eindringlich-schönem Gesang aufwartet. 

Am Ende ist Hayden Thorpe’s Ness mehr als nur ein weiteres Album. Wo Macfarlanes Buch teils Novelle, teils Prosa und teils Gedicht war, hat Hayden ein Kunstwerk geschaffen, das die Grenzen zwischen Musik, Hörbuch, Spoken-Word und klassischer Komposition verwischt. Es ist einfach ein einzigartiges Hörerlebnis, das Sie an einen Ort voller historischer Schrecken und Naturwunder entführt, der für die heutige Welt nur allzu relevant erscheint. Durch Hayden spricht Ness – und es ist ganz anders als alles andere, was Sie in diesem Jahr hören werden. 

Written by Karl Blakesley for Clashmusic