Der Rausch beim Texte-Sequencing
Vor mehr als einem Jahr habe ich mit der Planung begonnen und ich habe mich viele Monate auf das Projekt konzentriert; nun ist es fast abgeschlossen. Im Februar 2025 feiere ich das 20-jährige Bestehen meiner Literaturwerkstatt in Darmstadt. Dann wird eine Anthologie bei hochroth Heidelberg erscheinen, für die ich eine Auswahl meiner Lieblingstexte aus rund 250 Seminaren zusammengestellt habe: Auszüge aus Romanen und Kurzgeschichten, Gedichte, Kürzestgeschichten, und eine Filmszene ist auch dabei. Auf 54 Seiten – das ist der Umfang der hochroth-Bücher, die Stück für Stück von Hand hergestellt werden – bringe ich mein Vorwort, Texte von 27 Autorinnen und Autoren und die Kurzbiographien unter. Der letzte Schritt war eine Herausforderung, für die ich mir mehrere Tage Zeit genommen habe: Wie die Texte in eine Reihenfolge bringen? Sehr hilfreich war dabei das, was Michael immer wieder über das Sequencing der Musikstücke bei der Zusammenstellung seiner Sendungen schrieb. Also nicht nur von Stück zu Stück, von Text zu Text denken, sondern in großen Linien, in Spannungsbögen, in Strukturen, und schließlich auch in einem Rahmen. Motive aufgreifen, Stimmungen, Themen. Dabei halfen mir meine Analyse, Zufall, Intuition und eine Prise Magie. Die Auswahl der Texte selbst habe ich ohne Rücksicht auf die Zusammenstellung getroffen. Auszüge aus längeren Texten mussten auch ohne Kenntnis des Gesamtzusammenhangs funktionieren. Aus dem aktuellen Seminar sind alle Autorinnen und Autoren vertreten; schließlich stellt das Buch auch eine Gemeinschaft her. Hier ein Einblick, ohne Namen zu nennen, ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten, nur einzelne Punkte, an die angedockt wird. Verbindungslinien gäbe noch mehr. Zwei Texte erzählen von etwas, während sich eine Gruppe von Personen versammelt. Den einen Text, eine Seminarsituation, setze ich an den Beginn, den andern Text ans Ende des Buches. Zwischen die ersten beiden Prosatexte setze ich ein Gedicht, das einen gemeinsamen Gedanken aufgreift: die Suche nach Worten. Der dritte Prosatext endet mit einer irreal anmutenden Szene, die, was damals im Seminar fast alle überrascht hat, jedoch realistisch ist. Der nächste Text beginnt mit einer Szene, die sich in einem Klassenzimmer abspielt und nicht real geschehen kann, auch wenn die Lehrerin gerade abwesend ist. Einem zweifelnden Liebesgedicht folgt ein düsteres Liebesgedicht. Dann: Unheimlichkeiten, mildes, abendliches Licht, ein sonnendurchfluteter Wald, Gedanken, wie Wald entsteht, dann der einzige Text, in dem ein Stück Natur beschrieben wird, ohne Menschen. Im nächsten Gedicht bewegt sich jemand durch ein Stück Natur, in Aufruhr. Ein Prosatext endet in einer Art gemeinsamem Urschrei, im Hintergrund der Mond, ein nächtliches Licht, das ein Gedicht aufnimmt. Weitere Texte behandeln Fragen der Zugehörigkeit. Zwei Prosatexte sind einerseits verbunden dadurch, dass sie in der Vergangenheit spielen, der eine 1935, der andere 1911, zum zweiten auch durch eine Zeichnung, einmal am Rand, einmal im Zentrum. Es folgt eine irritierende, verunsichernde Erfahrung eines berufstätigen Mannes auf dem Nachhauseweg. Ein Mädchen, ein Mann: das ist auch die Konstellation im nächsten Text. Machtausübung zwischen den Geschlechtern. Wie einer Rollenzuschreibung entfliehen? Der Gedanke des Neuanfangs verbindet zwei Texte. Ein Kaffee to go im Sommer im letzten Gedicht. Dann schließt sich der Kreis. Und noch ein Gedanke aus dem musikalischen Sequencing: Kill your darlings. Wenn es dem gelungenen Sequencing dient, lasse ich bei solchen Autorinnen, von denen ich mehrere Gedichte aufgenommen habe, eines weg. Selbst wenn die Verbindungslinien nur indirekt wirken, bin ich mir sicher, dass sie wirken.
Viele Autorinnen und Autoren der Anthologie sind auf unterschiedlichen Gebieten im Literaturbetrieb in Erscheinung getreten: Sie haben in Zeitschriften und Anthologien publiziert, Bücher veröffentlicht, Preise und Stipendien erhalten. Sie leiten eigene Schreibseminare, geben Literaturzeitschriften und Anthologien heraus, sind Mitglieder von Autorenvereinigungen, sitzen in Jurys von Literaturpreisen, machen Radiosendungen, organisieren Lesungen etc. Literarische Texte zu schreiben und daran zu feilen, bis Literatur daraus wird: Das ist ein langer Weg ins Ungewisse hinein. Und man hört sie doch.