Spurensuche
28. Oktober 2021. Der Toyota sprang an, und exakt in der Sekunde fingen mich die ersten Töne eines Liedes ein – „das kenne ich doch“. Sobald die Stimme einsetzt, das wusste ich, wäre ich in dem Song drin. Nun war dieser Anfang mit seinen ruhig gesetzten Akkorden auf der Akustikgitarre viel zu verhalten, um sofort das Deja-Vu zu produzieren. Und dann erzählte Donovan von Atlantis. Es war wie früher, als ich das Lied so viel öfter gehört habe – der gesprochene Teil ist der fesselndere, die Melodie in ihrer leicht trunkenen Benommenheit ein bisschen zu schwelgerisch im Abgang, im fade-out. Ein Gassenhauer halt – im Sommer 64 oder 65 hatte ich noch einen Blutsbruder, und wir sangen den Refrain von Atlantis lauthals um die Wette und legten noch etwas mehr Greenhornteenagerpathos hinein. Wieso man solche Momente erinnert, mit diesem berühmten „als-wäre-es-gestern-gewesen-mindset“. Sunshine Superman hatten wir auch im Programm (in halb konfabuliertem Englisch).
Als ich Mattes vor ungefähr zehn Jahren mal ausfindig machen wollte (ich hatte viele Male versucht), endete die Suche im Telefonbuch, und an der alten Klingel des einstigen Nachbarhauses. Unbekannt verzogen, heisst es ja, im Leben oder anderswo. Aber ein sehr altes Paar hörte ich an jenem Tag in unserem alten Siedlungshaus rumoren, die Eltern der schönen Gabriele, die sieben war, als ich sieben war (und immer von der „Farbenfrau“ träumte, die mich allnächtlich in Serienträumen umarmte, am Rande eines Swimmingpools). In meiner verschwommenen Einbildung hätte ich zu gern das Kopfkissen mit ihnen geteilt, mit Gabi und der Indianerin. Und zu dritt auf dem Transistorradio Donovansongs gelauscht. Ganz real war hingegen die riesengrosse Märklin-Spielzeugeisenbahn von Matthias, am Fuss der blauen Berge.
21. Juni 2024. Noch am Meer mit dem ultramarinblauen Himmel, erreichte mich das weiter unten abgebildete Foto. Die Suche nach meinem Blutsbruder nahm Fahrt auf. Kaum war ich nach Ewigkeiten im Schwimmbad meiner Kinderjahre aufgetaucht, um die unerwartete Stille mit dem Stimmengesang eines fernen Jahrzehnts zu überblenden, stiess ich auf die Telefonnummer von Michael Z. Früher gab es sie nicht, verständlicherweise, als er noch Polizist war. Unsere Wege trennten sich damals, mit einem Umzug in eine andere Siedlung, und meinem Antritt auf dem Gymnasium. Nicht sofort, aber nach zwei, drei Jahren wurden die Besuche weniger, und Mattes und ich waren dem Alter der tollkühnen Streiche, der unschuldigen Popsongs, entwachsen, und träumten von Phänomenen, deren Wesen uns grundlegend unbekannt war.
Nun also schickte mir Michael Z. dieses Bild von der neunten Klasse der Brüder Grimm-Schule, und ich erkannte auf an Anhieb einige Gesichter, den späteren „Schupo“ ganz rechts, Mattes in der letzten Reihe, die mich als Kind seltsam faszienierrnde Margarete S. mit dem Archetyp aller Ponys. Natürlich fragte ich nach. Margarete und Helge lägen schon lange auf dem Friedhof, vernahm ich, und von Matthias hätte er ewig nichts gehört, aber da er die Todesanzeigen regelmässig lese, sei er guten Glaubens, dass er immer noch in einem dieser Reihenhäuser an der Hagener Strasse wohne, und ungefähr beschrieb er mir die Lage. Er habe seine Jugendliebe geheiratet und deren Namen angenommen. Im Örtlichen Telefonbuch fand ich nichts, die in Frage kommenden Häuser sehe ich auch ohne google earth lebhaft vor mir. Mitte Juli werde ich dort von Tür zur Tür gehen, und hoffen, meinen besten Freund wiederzufinden.
Back to the Sixties.
– Das Loch da, das nehmen wir.
– Wo?
– Tomaten auf den Augen? Da!
– Jau, knorke!
Damals fand Mattes die von einer Metallzange aufgeschnittene Öffnung im Zaun. Wir stahlen uns am Ticket-Stand vorbei (damals hiess das „Kartenhäuschen“), kletterten durch das Loch und sparten uns das Taschengeld. Der FV Hombruch kam nun nicht annähernd heran an unsere früh erwachte Leidenschaft für den BVB, aber wir waren kleine Schlingel und ergriffen frech die Gelegenheit, Dortmunder Fussballwelten zu erkunden. Wir kannten die großen Helden nur aus Radio und Fernsehen, der erste Besuch im Stadion Rote Erde stand noch aus. Aber wir konnten schon den Twist tanzen.